Folge 22

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Irgendwo zwischen Deck 17 und 14 bleibe ich an einer Treppenstufe hängen. Ich verliere das Gleichgewicht und stolpere drei Stufen hinab. Als ich mich fange, muss ich stehen bleiben, um meinen endgültigen Halt wiederzufinden.

Das ganze Treppenhaus ist ein stummer, klaffender Schlund in Form einer viereckigen Spirale. Obwohl auf den Korridoren die Hölle los war, macht sich niemand die Mühe bis zum Oberdeck über die Treppe zu gehen. Ich bin allein.

Tränen kullern mir über die Wangen. Es ist niemand hier. Ich bin vollkommen allein. Aiden hätte gewartet. Er hätte mich an irgendeinem Punkt abgefangen. Es sei denn er ...

Ich setze mich in Bewegung, um die Gedanken stehen zu lassen. Aber sie kommen mir nach. Was ist mit Aiden? Wo ist er? Und Conrad? Judith? Ich habe sie verloren.

Meine Füße fliegen über die Stufen. Ich renne hinunter, der Grenze zwischen Deck 10 und 9, zwischen Vilex und Nicht-Priviligierten entgegen und empfinde absolut nichts, als ich sie passiere. Über dem Meer oder darunter. Es ist vollkommen egal, wo ich mich aufhalte. Nach Jacksons Videobotschaft sind wir alle gleich. Feige Hunde, die exekutiert werden sollen.

Ich halte mich am Geländer fest und bleibe stehen. Keuchend lehne ich mich über die Brüstung und spähe nach oben. Wo soll ich hin? Wo werden sie nicht nach mir suchen? Mir fällt nur ein Ort ein. Keine Ahnung, ob das die beste Idee ist, aber ich habe keine andere. Also mache ich kehrt.

Ich laufe die unzähligen Stufen wieder hinauf und biege auf Deck 12 ab. Auf den Fluren begegne ich nur vereinzelten Personen. Meistens sind sie zu zweit oder zu dritt. Sie haben Messer dabei, Gürtel mit Schnallen aus Metall oder Baseballschläger. Keiner achtet auf mich. Bleierne Schwere legt sich auf meine Brust. Ich schleppe mich die letzten Schritte zu meinem Apartment, tippe die Zahlenkombination ein und falle zusammen mit der Tür ins Zimmer. Mit letzter Kraft schiebe ich die Tür zu und atme auf, als das Zischen der Verriegelung eine kleine Vibration durch das Metall schickt.

Ich rutsche an der Tür hinunter und werfe einen Blick auf das Chaos. Noch immer liegen die Mitschriften der Protokolle auf meinem Schreibtisch. Genauso wie ich sie zurückgelassen habe. Die Decke auf meinem Bett ist noch in Falten geworfen, an der Stelle, wo Aiden gesessen hat. Sein Handabdruck ist noch immer an der Scheibe zu sehen. Trotzdem kommt es mir vor, als wäre es Jahrhunderte her, dass ich zum letzten Mal hier war.

Ich stehe auf und gehe hinüber zum Schreibtisch. Ich raffe die Notizen zusammen und lege sie auf einen Stapel. Der Stuhl mit den aufgetürmten Klamotten ist als nächstes dran. Ich sortiere jedes Teil in den Schrank. Ordentlich gefaltet. Wie meine Mom es mir beigebracht hat. Ich streiche die Bettdecke glatt, schiebe den Schuhkarton an seine angestammte Position unter dem Bett. Dann hole ich mir frische Sachen aus meinem sortierten Kleiderschrank und gehe ins Badezimmer.

Ich dusche, ziehe mich um, putze mir die Zähne und behandle meinen Fuß mit einem betäubenden Eisgel, das ich im Schrank finde. Obwohl ich mir Zeit lasse, stehe ich nach zehn Minuten wieder ratlos in meinem Zimmer. Wenn man nicht verfolgt wird, vergeht die Zeit langsamer. Ich seufze auf. Mein Blick fällt auf Moms Kette, die ich damals fast achtlos in das kleine Kästchen auf meinem Nachttisch gelegt habe. Nein, nicht achtlos. Ich wusste nur nicht, was ich damit anstellen sollte. Jetzt habe ich zumindest das Bedürfnis, sie bei mir zu tragen. Ich nehme sie heraus und lege sie mir um den Hals. Den kleinen Anhänger lasse ich im Ausschnitt verschwinden.

Was jetzt? Wohin soll ich gehen? Wie soll ich Aiden in diesem Chaos finden? Ich lasse mich auf das Bett fallen, strecke die Arme von mir und starre hinauf zur Zimmerdecke. Was mache ich, wenn er es nicht geschafft hat?

Mit einem Schlag wird mir klar, wie sehr ich mich an die Vorstellung geklammert habe, dass wir das gemeinsam durchstehen. Wir sind ein Team. Wir gehen gemeinsam unter, wenn es das Schicksal so will. Aber jetzt bin ich allein und Aiden ist keine Ahnung wo.

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt