Die Plattform steht noch immer an der gleichen Stelle. Irgendwas muss an der Hydraulik kaputt sein. Seilt sich jetzt von oben jemand ab, um den Mann zu retten?
Schritt 1: höfliche Vorstellung inklusive Danksagung für die Einladung.
Niemand wird abgeseilt. Der Wind schwenkt die Ebene hin und her. Dem Typ bleibt nichts anderes übrig, als sich an das rostige Geländer zu klammern. Ich kann ihn nicht hören, aber der energischen Bewegung seiner Lippen zu urteilen, sind seine Worte eher harter Natur.
Schritt 2: aufmerksames Verfolgen der Einführung des Gesprächsthemas.
Schritt 3: körpersprachliche Verhaltensweisen analysieren und entsprechende Reaktion.
Ein lauter Knall. Ein Windstoß hat die Plattform gegen mein Fenster geschlagen. Der Arbeiter hantiert an dem Schalter herum. Nichts passiert. Ein erneuter Windstoß zerrt das Konstrukt nach links. Die Seile auf der rechten Seite rutschen aus ihrer Fassung. In Schieflage klammert sich der Fensterputzer an das Geländer. Seine Utensilien gleiten aus der Verankerung. Sie stürzen fünfundzwanzig Meter unter ihm ins Meer.
Automatisiert hechte ich zum Fenster. Ich tippe den Code zum Öffnen ein. Der hereinpreschende Wind wirbelt meine Notizen durch den ganzen Raum.
«Hier rüber!», rufe ich und beuge mich, so weit es nur geht, über das Geländer. «Jetzt machen Sie schon!»
Die Seile quietschen in den Gewinden. Zaghaft setzt er einen Schritt auf der schiefen Ebene vorwärts. Er hangelt sich an der Metallstange entlang in meine Richtung. Ich strecke meine Arme aus. Wenn ich die Seile zu fassen bekomme, kann ich ihn leichter zu mir ziehen. Wenn die Plattform dabei abstürzt, falle ich mit. Der Arbeiter greift nach meiner Hand. Es fehlen noch zwei Zentimeter. Komm schon! Ich kralle meine Finger in den Fensterrahmen. Noch weiter über das Geländer gelehnt, spüre ich die Fingerspitzen des Mannes an meinen.
Ein Seil reißt aus der Verankerung. Die Plattform kippt.
Der Fensterputzer packt meinen Arm. Mit einem beherzten Ruck zerre ich ihn ans Geländer. Er bekommt die Brüstung zu fassen, als das andere Seil aufspringt. Keuchend hievt er sich über das Geländer. Ich werfe einen Blick nach unten, wo die Plattform in den verseuchten Fluten versinkt.
«Danke», hechelt er atemlos.
Ich schließe das Fenster mit tauben Fingern.
«Nichts zu danken.» Mit dem Handrücken schrubbe ich mir über die Stirn, während der Typ seine Mütze vom Kopf zieht.
Vor Schreck bin ich unfähig mich zu bewegen.
«Das ist doch nicht wahr!» Meine Stimme klingt hysterisch.
«Freut mich auch zu sehen, dass es dir gut geht.»
«Was machst du hier, Nick?»
«Aiden.»
«Was?» Mein Gehirn ist irgendwie eingefroren.
«Ich heiße jetzt Aiden», erklärt er noch immer außer Atem.
«Was Besseres ist dir nicht eingefallen?»
Er verdreht seine Augen, die so dunkel sind wie mein ebenholzfarbener Nachttisch.
«Ist mein Zweitname.» Er sieht an sich herab und betrachtet dann ausgiebig die Schnittwunde an seiner Handfläche. «Hast du irgendwas zum Verbinden da?»
«Das ist doch nur eine kleine ...»
«Es wäre ein bisschen schlecht, wenn ich hier in deinem Apartment verblute, oder?» Irgendwie wirft das mehr Fragen auf, als es beantwortet. «Blutgerinnungsstörung», erklärt er, als er meinen irritierten Blick bemerkt.
Ich saß monatelang zusammen mit diesem Typen in einem Raum. Wieso weiß ich so verdammt wenig über ihn?
«Ist ein hübsches Apartment übrigens», meint Aiden, als ich nichts weiter sage.
«Ja», stimme ich zu und gehe hinüber zum Erste-Hilfe-Schrank. Er hatte offenbar ausreichend Gelegenheit es sich in aller Ruhe anzusehen. «Du bist also Fensterputzer?» Ist das nicht zu auffällig? «Wie lange machst du das schon?» Ich hole frisches Verbandszeug hervor und halte es ihm hin.
«Lange genug, um zu wissen, dass du einen mysteriösen Schuhkarton unter deinem Bett versteckst.» Er nimmt mir den Verband aus der Hand und nickt zu meinem Bett. Sein Blick sprüht vor Belustigung, während er mir offenbar ansieht, dass ich nun doch für das Verbluten bin.
«Ich werde den Medical Service verständigen», lenke ich ab.
«Ich gehöre nicht mehr zu euch, schon vergessen?»
Nein, natürlich nicht. Aber mein Vater wird eine Ausnahme machen. Für jemanden, der meiner Mutter nahe stand, wird er das tun. Ich gehe zur Gegensprechanlage und suche nach der Notruftaste, die ich noch nie verwendet habe. Als ich sie gerade drücken will, packt Aiden mit seiner unverletzten Hand mein Handgelenk.
«Vergiss den Medical Service», zischt er. Unter seinem durchdringenden Blick weiche ich zurück und pralle damit gegen die Wand.
«Du brauchst Medikamente.»
«Irgendjemand dort oben ärgert sich gerade ganz gewaltig, dass du dein Fenster geöffnet hast», erklärt er, als hätte ich nichts gesagt. Ich winde meine Hand aus seinem Griff. «In weniger als zwei Minuten werden zwei Sekretäre vor deiner Tür auftauchen und dein Apartment durchsuchen wollen. Bis dahin würde ich dir gern meine Situation erklären.»
«Das schaffst du in zwei Minuten?»
Er wirft mir einen ermahnenden Blick zu. Ich verstumme, brav wie ein Lamm, obwohl mir ganz anders wird, wenn ich daran denke wie Sekretäre mein Chaos durcheinanderbringen.
«Das Concilium verfolgt mich. Und sie versuchen mich umzubringen.»
«Das habe ich mitbekommen.»
«Ich bin eine Gefahr für das System, weil ich Informationen habe, die ich nicht haben sollte», fährt er fort.
«Welche Informationen?»
«Dass die Lotterie manipuliert wurde.»
In meinem Inneren bildet sich ein Loch. Ein großes, schwarzes Loch. Es verschlingt alles. Gleichzeitig dringt ein verkümmertes Lachen aus meinem Mund.
«Du musst mir helfen, es zu beweisen.»
«Ich soll dir helfen, das System zu ...?»
«Bist du dabei?»
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Only Water - Kenne deinen Feind
Science FictionDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...