Folge 12

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Auf dem Türschild prangt in goldenen Buchstaben der Name meines Vaters. Prof. Dr. med. Thomas Palmer. Chefarzt der Chirurgie.

«Wie spät ist es?», frage ich Aiden, der nervös den Gang entlang blickt.

«Halb 6», sagt er.

Ich nicke vor mich hin. Dad macht immer Pause, bevor der Ansturm auf die Kantine beginnt. Wenn wir Glück haben, ist er nicht da. Dann kann er auch keine Fragen stellen.

Ich drücke die Türklinke herunter. Mit einem leisen Klacken gibt sie nach und legt den Blick auf das sterile Arbeitszimmer dahinter frei. Es ist niemand da. Ich bedeute Aiden mit einem Winken, mir zu folgen.

Wie immer liegen dicke Bücher auf dem Schreibtisch und Patientenakten türmen sich zu einem Stapel auf. Dads Stift liegt mit abgezogener Kappe auf einem leeren Blatt Papier. Er lässt seine Stifte niemals offen liegen.

Ich stoße die Luft aus und gehe zu seinem Arztkoffer, den er stets auf der kleinen Kommode neben der Tür zum Aktenzimmer abstellt. Mit flinken Fingern krame ich darin herum und findet schnell, was ich suche.

«Setz dich da hin!», weise ich Aiden an und deute auf den Schreibtisch. Nur dort ist er hoch genug, dass ich bequem sein Kinn behandeln kann. Dann gehe ich hinüber zum Medikamentenschrank, den Dad nicht abgeschlossen hat, was noch seltsamer ist, als der offene Stift. Mir bleibt keine Zeit darüber nachzudenken.

«Welcher Typ bist du?», frage ich über die Schulter.

«A. Du brauchst Faktor ...»

«Acht, ich weiß.» Ich hole das kleine Fläschchen aus dem Schrank und platziere es neben Aiden auf dem Tisch.

«Ich mache es selbst, wenn das okay für dich ist.» Ich spüre seinen Blick auf mir, aber ich schaffe es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.

Nadeln sind nicht mein Ding und schon gar nicht, wenn ich sie jemand anderem in den Arm stecken muss. Also nicke ich. Aiden zieht die Jacke aus, nimmt den Stauschlauch und zurrt ihn an seinem Oberarm fest. Mit geübten Griffen zieht er die Spritze auf, punktiert seinen Arm an der richtigen Stelle und trifft sofort eine Vene. Als er fertig ist, streife ich die Latexhandschuhe über, nehme sein Kinn zwischen meine Finger und drehe seinen Kopf vorsichtig ins richtige Licht. Dass ich dabei zwischen seinen Beinen stehe, versuche ich auszublenden.

Zum Glück ist die Wunde nicht allzu tief. Es wird nicht nötig sein, sie zu nähen. Aidens Kiefermuskeln zucken unter meiner Berührung. Ich begegne seinem Blick, der aufmerksam mein Gesicht studiert, als hätte er das letzte Mal, als wir uns so nah waren, nicht ausreichend Zeit dazu gehabt.

«Sie ist nicht sehr tief», sage ich und treibe die Hitze zurück, die mir zu Kopf zu steigen droht. Ich lege eine Kompresse auf die Wunde, um das immer noch nachlaufende Blut aufzusaugen. Als die Blutung endlich nachlässt, reinige ich die Wunde vorsichtig. Er knurrt leise, als ich ein mit Desinfektionsmittel getränkte Tuch auf sein Kinn presse. Ich sehe das Zittern seiner Nasenflügel. Dann drücke ich die Wunde zusammen, während ich versuche, meine Hände ruhig zu halten. Aiden sieht mich immer noch an. Ich ziehe einen Wundverschlussstreifen aus der Verpackung und platziere ihn über der Wunde. Zur Sicherheit nehme ich noch einen zweiten.

Mit zwei Fingern hebe ich Aidens Kinn an, bis er den Kopf weit genug hebt, dass ich meine Arbeit zufrieden begutachten kann. Als ich mit meiner Betrachtung fertig bin, ziehe ich die Handschuhe über meine Finger und halte meinen Blick auf die Tischplatte gerichtet. Aiden beobachtet jede meiner Bewegungen.

«Hat dein Vater dir das beigebracht?», fragt er leise.

«Erste Hilfe Kurs in der siebten Klasse.» Mir ist schon klar, dass er die Medikamentensache meint, aber ich habe keine Lust darüber nachzudenken, warum ich nahezu jedes Medizinbuch meines Vaters gelesen habe.

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt