Folge 10.2

13 1 0
                                    

Aiden fängt meinen Blick auf.

«Sie hat auch für das Concilium gearbeitet», erinnert er mich. «Sie musste ihren Job machen. Und wenn du mich fragst, war sie ziemlich gut darin, nach außen immer den Regeln zu folgen und hintenrum das zu tun, was sie für richtig hielt. Sonst hätte sie sich nicht mehr mit mir getroffen.»

Eigentlich wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, ihn zu fragen, was es mit den späteren Treffen auf sich hatte. Aber die Angst vor einer neuen Hiobsbotschaft hindert mich daran.

«Hat sich dein Vilex-Leben sehr von dem davor unterschieden?», wechsle ich das Thema, bevor die Panik mich erneut überrollen kann.

«Durch das Vilex-System hatten wir zum ersten Mal eine echte Perspektive. Es war unsere Rettung. Perry konnte zur Schule gehen, ohne ständig von irgendeiner Mädchengang aufgerissen oder von Jungs belästigt zu werden.» Er wischt sich die Haare aus dem Gesicht.

«Und für dich?», hake ich nach und beobachte sein finsteres Mienenspiel.

«Ich hatte», seufzt er, «zum ersten Mal das Gefühl, etwas wert zu sein. Weißt du, wie es ist, wenn man immer genau weiß, dass man mehr kann, dass man besser sein kann, aber es gibt niemanden, der dir glaubt?» Seine Stimme zittert vor Wut. «Der Gewinn hat mir die Chance gegeben, zu beweisen, dass ich besser bin, als meine Herkunft verspricht.» Ich beobachte, wie sich seine Kiefer aufeinanderpressen und sich dabei seine Ohren bewegen. Um meinen Hals legt sich wieder das unsichtbare Tuch und nimmt mir die Luft. Ich hatte immer alle Chancen dieser Welt. Hab ich sie genutzt? Bin ich dem Glück gerecht geworden, dass mir mein Leben erleichtert hat? «Und abgesehen davon, sind Vilex-Betten einfach die besten Betten auf diesem Planeten.» Ich hebe die Augenbrauen und muss trotzdem grinsen. «Was hat sich für dich geändert?», fragt er und lehnt sich mit der Schulter gegen das Glas. Das Funkeln seiner Augen verrät, dass ihm die Röte meiner Wangen nicht entgeht.

«Durch das System? Gar nichts», antworte ich verspätet. «Mein Leben hat sich erst so richtig um 180 Grad gedreht, als du aufgetaucht bist.» Er macht ein verblüfftes Gesicht, aber bevor er irgendwas von wegen «Ich habe also dein Leben verändert» sagen kann, spreche ich weiter. «Ich habe immer gedacht, dass ich weiß, was ich will und auf welchem Weg ich es erreichen kann, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.»

«Du willst deine Mom stolz machen.»

«Auch», sage ich und meine Hand wandert zum Kragen der Jacke, um dort den Juckreiz auszuschalten.

Er nimmt sie weg und hält sie fest. Es ist komisch meine Hand in seiner zu sehen und ich weiß, dass ich sie ihm entziehen sollte. Einfach weil es falsch ist. Aber andererseits ist diese Berührung alles, was mich gerade davon abhält durchzudrehen. Sein Blick findet meinen und hält ihn gefangen. Das Dunkel seiner Augen ist beruhigender als das Blau des Meeres.

«Was noch?», fragt er rau.

«Ich ... will, dass», stammle ich und muss meine Augen schließen, um meine Gedanken zu sortieren, «Ich will, dass alles gut wird, dass jeder hier glücklich sein kann und dass du deine Schwester wiedersiehst.» Aidens Iris ist so dunkel, dass man nicht sehen kann, wo die Pupille anfängt. Trotzdem beginnt in seinem Blick etwas zu leuchten. Ich spüre das Pulsieren meines Herzschlags in seinen Fingern. «Ich will, dass du und jeder andere, die Chancen bekommt, die er verdient hat.» Mein Herz zuckt schmerzhaft zusammen, als ich begreife, dass das die Worte meiner Mutter sind.

Aiden muss schmunzeln und lehnt sich zu mir, als will er mir ein Geheimnis verraten. Sein Griff um meine Hand wird fester, als fürchtet er, ich könnte sie ihm entreißen.

«Du wirst einen ziemlich starken Willen brauchen», flüstert er.

Ich will mit den Schultern zucken, aber sie sind zu schwer. Alles an mir ist schwer und gleichzeitig federleicht.

«Mach dir darüber keine Sorgen», flüstere ich zurück und wünschte, ich hätte genug Stimme es lauter zu sagen.

«Mach ich nicht.» Sein Lächeln verschwindet. Von seinen Lippen, nicht aus seinen Augen.

Ein Hauch seines Sommerregengeruchs weht mir in die Nase, als er sich an meiner Hand näher zu mir zieht. Ich bleibe einfach stehen. Er steht so dicht vor mir, dass ich die Schattierungen seiner Iris sehen kann. Außen kohlenschwarz, dann kaffeefarben, Sprenkel in Zimt und ein Schimmer in dunklem Bronze. Alles überdeckt mit dem blauen Licht des Ozeans, der neben uns existiert. Ich halte die Luft an, damit nicht auffällt, wie unregelmäßig ich atme, als er mit einem Finger meine Schläfe, meine Wange, meinen Kiefer nachzeichnet. Sein Atem haucht gegen meine Lippen, wie meiner gegen seine. Wir zögern beide. Wie gebannt liegt sein Blick auf meinem Mund, während ich versuche, gegen das Bedürfnis anzukämpfen, mich einfach in seine Arme fallen zu lassen. Er sieht es, als er mir in die Augen blickt, entfernt sich aber nicht und er kommt auch nicht näher. Seine Haut kitzelt auf meiner, weil nur noch Millimeter zwischen uns liegen. Meine Hand findet ihren Platz an seiner Seite. Ich kann nichts dagegen tun, dass sie sich in seine Jacke krallt, ihn näher zieht. Bis ein schrilles Pfeifen ihn von mir wegreißt.

«Was ist das?», frage ich, unsicher ob ich überhaupt wach bin.

Aiden hält noch immer meine Hand fest und zerrt mich, ohne ein Wort zu sagen, mit sich zur Tür. Draußen ergießt sich ein Strom rennender Menschen. «Scheiße!», flucht er und zieht sich die Kapuze über den Kopf.

Ich folge seinem Beispiel. Wir reihen uns zwischen den Leuten ein, aber wir laufen schneller als sie. Ich stolpere über Füße, remple gegen Schultern und Metallwände und schließlich gegen Aidens Rücken, als er anhält. Der Strom ändert seine Richtung. Alle rennen zurück und ich sehe warum. Sekretäre. Ein ganzer Trupp stürmt den Gang. Sie tragen weiße Uniformen und Schutzmasken, unter denen man ihre Gesichter nicht sehen kann. Auf ihrer Brust prangt das Emblem der Privilegierten.

Wir sind zu weit vorn! In meinem Rücken öffnet sich die Tür zu einem Apartment. Eine Frau stürmt heraus. Ich stürze an ihr vorbei und zerre Aiden hinter mir her. Er wirft die Tür zu und verriegelt sie.

«Was wollen die?», keuche ich und stütze die Hände auf die Knie. Stechender Schmerz schneidet bei jedem Atemzug in meinen Brustkorb. Diese verfluchte Rennerei!

«Vergeltung», knurrt Aiden.

Gerade als er sich aufrichtet und zu mir kommen will, fliegt die Tür gegen die Wand. Eine weiße Gestalt hechtet sich auf ihn, presst ihn mit dem Unterarm auf der Kehle gegen die Garderobe. Aiden schlägt auf den Arm ein, aber der Eindringling hält mit einem tiefen Schlag dagegen, der Aiden zusammensacken lässt. Dann ein Kinnhaken. Die Handschuhe des Sekretärs werden von roten Flecken überzogen. Ich springe ihm ins Visier. Kampftraining. Wie war das noch?

Ein Hieb trifft meinen Kiefer, dass mir die Zähne aufeinanderschlagen. Mein Gesicht kracht gegen die Metallwand. Schmerz explodiert in meinem Wangenknochen. Der Sekretär wendet sich wieder Aiden zu. Aus einer Halterung am Gürtel zieht er einen Stab hervor. Sieht aus wie billiges Plastik, doch es ist unbrechbares Metall.

Ablenkung!, schreit eine Stimme in meinem Kopf.

Ich stoße mich von der Wand ab und stürze mich auf den Uniformierten. Hastig reiße ich ihm die Maske vom Gesicht, schleudere das Ding quer durch den Raum. Der Sekretär wirbelt herum, schiebt mich an den Schultern gegen die Wand. Die Kapuze verfängt sich an einem Kleiderhaken. Mit einem Ruck rutscht der Stoff aus meinem Gesicht und gibt meinen Blick auf sein Gesicht frei. Stahlblaue Augen, so weit aufgerissen, dass man das Weiß um die Iris sehen kann, starren mir entgegen.

«Conrad?»

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt