«Wir haben für sowas keine Zeit, Kleine», fährt Cassy Perry an. «Er hat gesagt, du sollst nicht nach unten gehen, also werde ich einen Teufel tun, ihm zu widersprechen.»
«Er ist mein Bruder!», macht Perry ihren Anspruch auf eine persönliche Übergabe meiner Person an Aiden geltend. «Ich will ihn sehen!»
«Nein!», legt Kahlkopf fest, schnappt mich am Arm und bugsiert mich durch eine Metalltür in einen endlosen Maschinenraum.
«Man sieht sich immer zwei Mal», droht Perry noch, bevor Cassy die Tür zuschlägt und vorangeht.
«Kannst du dich mal beeilen?», plärrt sie durch das Dröhnen der Maschinen.
Wieso musste Perry mich ausgerechnet an sie übergeben?
Ich schlängle mich hinter Cassy zwischen nach Alkohol stinkenden Pennern durch und dränge mich an röhrenden Maschinen vorbei. Meine Ohren fiepen. Hier unten stehen sämtliche Maschinen, die Modul 7 am Leben erhalten. Sauerstoffpumpen. Wasserfilter. Generatoren. Aber immerhin gibt es hier keine intakten Kameras. Alle, die mir ins Auge fallen sind mit Panzertape abgeklebt, zerschlagen oder nur noch ein Haufen aus der Wand wuchernder Kabel.
«Wie lang wisst ihr schon hiervon?», schreie ich Cassy hinterher.
«Aiden hat es mir gezeigt.»
«Was hat er dir gesagt, warum ich hier bin?»
Kahlkopf fährt zu mir herum. Ich laufe fast in sie hinein. Ihre kalten Augen sprühen vor Hass.
«Was glaubst du denn?», keift sie. «Nichts hat er mir gesagt. Gar nichts. Du musst jemanden für mich abholen. Das war alles. Tu's für mich», äfft sie ihn nach. «Keine Ahnung, was er an dir findet.» Ihr Blick wandert über meine Gestalt. Ich fühle mich wie ein halber Abrupf. «Also halt einfach den Mund und lass mich die Sache zu Ende bringen, damit ich dich dann nie wieder mit ihm sehen muss.»
Ich kneife die Lippen zusammen. Cassy macht kehrt und setzt den verschlungenen Weg zwischen den Rohren und Behältern fort. Mir war nicht klar, dass sie so viel für ihn empfindet. Aiden wohl auch nicht. Ich will sie nicht weiter provozieren. Wir schweigen bis wir an einer verrosteten Tresortür ankommen.
Cassy hämmert mit ihrer geballten Faust gegen das Metall. Keine Sekunde später öffnet sich der Durchgang einen Spalt, der kaum breiter ist als meine Hand. Kahlkopf steht vor mir, sodass ich nicht sehen kann, wer sich hinter der Tür befindet. Sie spricht mit jemandem. Eine halbe Ewigkeit vergeht. Das Blut schießt durch meine Adern. Für ein nettes Pläuschchen ist auch später noch Zeit!
«Nein, niemand hat uns gesehen», knurrt Cassy. «Ich hab sie zurückgeschickt. Wie er gesagt hat.»
Ein dumpfer Schlag erklingt von der anderen Seite. Die Tür schiebt sich mühsam auf, doch kaum, dass der Spalt breit genug ist, schlüpft eine Gestalt in schwarzer Kleidung hindurch. Aiden sieht aus, als will er mir sofort um den Hals fallen, bleibt dann aber vor mir stehen. Sein Blick zuckt über meinen ganzen Körper, als kann er nicht begreifen, dass ich leibhaftig vor ihm stehe. Seine Augen weiten sich, als er meine geschwollene Wange bemerkt. Wut und Besorgnis und Erleichterung prägen seine Miene, während mein Atem immer schwerer geht. Ich halte das nicht länger aus.
Ich stürze nach vorn, schließe die Arme um seine Taille. Meine Hände krallen sich in das T-Shirt unter seiner Jacke. Ich vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter und bin machtlos gegen die Tränen. Seine Arme schließen sich zaghaft um meinen Körper. Als hätte er Angst mich kaputt zu machen, als könnte ich wieder verschwinden, in seinen Händen zerbrechen.
«Du hast es geschafft», schluchze ich.
Meine Worte reißen ihn aus seiner Trance. Er legt seine Arme fest um mich, zieht mich eng an sich und hebt mich ein Stück hoch, bis ich den Kontakt zum Boden verliere.
«Du hast es geschafft», raunt er gegen mein Haar. Seine Lippen streifen mein Ohr.
Er hält mich weiter fest an sich gedrückt, als er mich vorsichtig absetzt.
«Perry», korrigiere ich leise. «Ich bin ihr nur nachgelaufen wie ein Hund.»
Aiden lacht leise an meinem Ohr. Ich bekomme eine Gänsehaut davon. Die Wärme seines Körpers dringt durch den Stoff bis auf meine Haut. Dann schiebt er mich sanft von sich. Seine Fingerspitzen streichen über mein Gesicht, zeichnen die rote Schwellung nach, die der Schlagstock eines Sekretärs auf meiner Wange hinterlassen hat.
«Danke, dass du sie hergebracht hast.» Er wendet sich an Cassy, ohne mich loszulassen. Aber Kahlkopf verschwindet im selben Moment hinter einem Lüftungsrohr.
«Glaubst du, sie will zusehen, wenn ihr euer Wiedersehen feiert?», spottet die Figur in der Tür. Es ist ein dicklicher Mann in weißem Feinrippunterhemd und zerschlissener Jogginghose, die den Speiseplan des letzten Monats widerspiegelt.
«Das ist Freddie», kommt Aiden meiner Frage zuvor.
«Hi.»
Feinripp-Freddie nickt mit ernster Miene und verkriecht sich zurück hinter die Tür.
«Hast du Hunger?» Aiden zerrt die Tresortür weiter auf und lässt mir den Vortritt. «Es gibt irgendwas, das nach Hühnchen aussieht, aber nach Fisch schmeckt.»
«Klingt verlockend», grinse ich.
Mir ist vollkommen egal, was es gibt. Meine letzte Mahlzeit ist so lang her, dass ich alles essen würde. Abgesehen von Würmern vielleicht.
Zwei Minuten später sitze ich auf einer versifften Matratze und beäuge kritisch den Hühnchenfisch. Er schwimmt in einem grünlichen Glibber. Zaghaft spieße ich ein Stück auf die Plastikgabel und rieche daran. Es riecht nach gar nichts. Wie ich feststelle, schmeckt es auch nach gar nichts. Ein bisschen fischig vielleicht, aber wir sind hier schließlich unter dem Meeresspiegel. Da schmeckt alles irgendwie nach Fisch.
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Only Water - Kenne deinen Feind
Ciencia FicciónDie Flut. Eine Katastrophe. Die Lotterie. Der Gewinn eines Privilegs. Die Wahrheit. Manipuliert. Henrietta ist eine Privilegierte. Sie darf zur Schule gehen, kann sich einen Beruf aussuchen und wohnt allein in einem großen Apartment. Da ist es fast...