Folge 16

10 2 0
                                    

Es geht um die Kinder. Sie brauchen uns. Für irgendwas.

«Wie kommst du darauf?», fragt Aiden.

«Weil sie alle Vilex-Decks evakuieren würden, wenn es darum ginge die gehobene Klasse vor was auch immer zu retten.»

«Und was, wenn eins mit dem anderen nichts zu tun hat? Auf Deck 11 gibt es auch viele Kinder.»

Ich zucke die Schultern. Vielleicht hat Aiden recht. Wieso sollten sie sein altes Deck nicht evakuieren, wenn es um die Kinder geht? Ich betrachte ihn einen Moment und versuche, mich an die Zeit zu erinnern, als er verschwunden war. Es sind erst ein paar Tage, aber es fühlt sich so an, als wäre mein Leben ohne ihn unmöglich. Trotzdem muss ich ihm die Wahrheit sagen.

«Hat meine Mutter dir gesagt, warum ihr zu spät über den Gewinn informiert wurdet?», frage ich und versuche mir vorzustellen, wie Nick und sie an einem Tisch sitzen. Er der rebellische Möchtegern-Vilex. Sie die gönnerhafte Sekretärin mit dem Heiligenschein.

«Ein Fehler im System.» Sein Mundwinkel zuckt.

Das Bild meiner Mutter verschwimmt vor meinem geistigen Auge. Sie hat es ihm nicht gesagt. Er kennt nicht die Wahrheit über meine Mutter. Über mich.

«Sie hat euch ausfindig gemacht, weil unser Platz in Wahrheit euch gehört», platze ich heraus. Keine Lügen mehr. Keine Geheimnisse. Meine Fingernägel finden die wunden Stellen an meinem Hals und graben sich tief in sie hinein. «Sie wollte ihr Gewissen beruhigen. Das ist alles.»

Aiden sieht für einen Moment durch mich hindurch, als müssten die Worte erst in seinem Kopf ankommen. Dann nimmt er meine Hände in seine und hält sie so fest, als will er sie nie wieder loslassen. Es macht mich wütend und gleichzeitig bin ich ihm dankbar dafür. Geht das überhaupt?

«Sie war auch nur ein Mensch», sagt er leise. Sein Blick findet meinen und fesselt ihn. «Das ändert nichts daran, dass sie etwas Gutes tun wollte.» Ich schüttle den Kopf, doch er legt seine Hände an mein Gesicht und zwingt mich, ihn anzusehen. «Es ändert nichts daran, wie ich dich sehe.»

Die Wärme seiner Hände tröstet mich. Und die Art wie er meine Haare zurückstreicht.

«Und was, wenn ihre Güte nicht der einzige Grund war, weshalb sie euch ausgewählt hat? Was, wenn ihr zufällig auch noch wunderbar für das geeignet seid, was das Concilium vor hat?» Meine Stimme vibriert. Ich atme zu schnell, zu unregelmäßig, weil ich es nie in Betracht gezogen habe, das meine Familie zu so etwas fähig sein könnte.

«Es spielt keine Rolle.» Der Blick aus seinen dunklen Augen verschlingt mich, reißt mich mit, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. «Die Lotterie wurde manipuliert. Dieses ganze System ist eine Lüge. Niemand ist da, wo er hingehört.» Er lässt mich los und sinkt zurück gegen die Wand, den Blick auf die Deckenleuchte geheftet.

«Wir müssen herausfinden, was sie vorhaben. Ich will wissen, womit mein Vater für unseren Platz bezahlt hat. Ich will wissen, was es mit der Evakuierung auf sich hat und wohin sie die Leute bringen wollen.»

«Um das rauszufinden, bräuchten wir einen direkten Draht ins Concilium.» Er schüttelt leicht den Kopf.

Ich fahre mir mit der Hand ins nasse Haar und streiche es zurück. Dann wende ich mich ihm komplett zu. Meine Idee wird ihm nicht gefallen.

«Wir sollten Helion manipulieren», sage ich und erwarte seine Reaktion. «Wenn Judith uns hilft, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.»

«Wenn Judith uns hilft, sind wir tot!», blafft Aiden. Er starrt noch immer an die Decke.

«Sie hat uns mehr als einmal geholfen. Wenn sie uns verraten hätte, wären wir schon längst in London.» Ich deute mit dem Finger auf den Fußboden und ignoriere die eiskalte Gänsehaut, die mir die Wirbelsäule hinaufkriecht, wenn ich an die versunkene Metropole denke. Aiden starrt mich wütend nieder. «Wir brauchen sie», versuche ich es ruhiger. «Mit Helion können wir eine Mitteilung an alle Personen des Moduls schicken. Wir können auf kürzestem Wege die Manipulation öffentlich machen. Und während das Chaos alle Sekretäre und vor allem Bob Coleman auf Trab hält, haben wir die Gelegenheit alles herauszufinden, was wir wissen müssen.»

«Oder wir lassen die Sache auf sich beruhen und suchen uns ein ruhiges Plätzchen», sagt er unvermittelt und richtet seinen Blick auf seine Knie.

«Du willst einfach nur rumsitzen?» Obwohl er mich nicht ansieht, erkenne ich, wie sich eine Furche in seine Stirn gräbt. «Wir sind jetzt so weit gekommen. Wir müssen das durchziehen.»

«So weit gekommen?» Er blinzelt mich an, als würde er in grelles Licht schauen. «Sie haben dich gefangen genommen. Sie haben dich misshandelt, dich verstoßen», zählt er an seinen Fingern ab. «Dein Vater hat dich verraten. Conrad hat ...»

«Ich weiß, was sie getan haben», erinnere ich ihn und verschränke die Arme.

«Ich habe dich in Gefahr gebracht. Ich bin der Auslöser für alles, was dir zugestoßen ist. Ganz ehrlich? Ich will nicht mehr und ich kann es auch nicht.» Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. «Dein ganzes Leben ist verdammt nochmal davor über dir zusammenzubrechen, Jetta. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich will das nicht für dich.»

Als könnte es schlimmer werden, als es schon ist.

«Dein Beschützerinstinkt ehrt dich sehr, aber ich denke ...»

«Du denkst, dass du durchaus in der Lage bist, eigene Entscheidungen zu treffen», äfft er mich nach. Er fährt so ruckartig zu mir herum, dass ich zusammenzucke. Sein rasender Blick entstellt seine ganze Miene und mein Herz krampft sich zusammen. «Und was machst du dann? Wenn du niemanden mehr hast? Wenn dein Vater dir nicht verzeiht? Wenn Conrad sich für Hailey entscheidet? Wenn Judith dich verraten hat? Wenn sich rausstellt, dass selbst deine Mutter niemals der Mensch war, den du dir erträumt hast, und du als verstoßene Vilex gezwungen bist hier unten zu überleben?»

Tief in meiner Brust setzt sich die Lawine wieder in Bewegung, die seit meiner ersten Flucht mit Aiden zum Abrutschen verdammt ist. Wie ist es möglich, dass er mich durchschauen kann, bevor ich es selbst begreife? Mir wird schwindelig, als ich die Hoffnung erkenne, die sich tief in meinem Herzen festgeklammert hat. Sie werden eine neue Ordnung herstellen. Conrad wird sich niemals für Hailey entscheiden. Und wenn Judith mich verrät, dann höchstens, um mich zu retten, und ich werde es ihr verzeihen. Was wenn nichts davon passiert? Wenn es viel schlimmer wird?

«Du hast etwas vergessen», schlägt die Erkenntnis heller als jeder Blitz der Welt in mich ein. Die Muskeln um Aidens Kiefer spannen sich. «Du hast dich vergessen. Du hast vergessen, dass du vielleicht der Auslöser für alles bist, aber auch mein einziger Verbündeter. Du hast vergessen, dass wir das alles zusammen erlebt haben. Ohne dich hätte ich ein ganz normales Leben. Aber ich würde mich für ein System ausbilden lassen, das beschlossen hat, dass Nickolas Sullivan nicht mehr existiert. Und das stimmt nicht. Du bist da. Hier und heute und in jedem Moment, der letzten Tage warst du mehr für mich da, als jeder andere, als jeder, der es hätte sein sollen. Du bist nicht der Auslöser für meinen Untergang, sondern für mein neues Leben.» Seine Züge werden weich, aber seine Augen verraten wie wütend es ihn macht, dass ich recht habe. «Ich will, dass alle Menschen auf diesem Modul wissen, dass sie betrogen wurden. Ich will die Wahrheit herausfinden.»

Only Water - Kenne deinen FeindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt