35. Kapitel

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Phileas

Wir reiten jetzt schon einige Minuten, doch bis jetzt hat noch niemand irgendwas gesagt. Am wenigsten ich. Stattdessen versuche ich, alles noch zu verstehen. Immer wieder wandert mein Blick zu Delfina und ich stelle mir immer wieder die gleiche Frage. Wie kann das alles sein? Am liebsten würde ich sie einfach ansprechen und ihr diese Frage stellen. Doch genauso viel habe ich Angst vor der Antwort. „Phileas, kann ich kurz mit dir reden?"

„Thore meint, du würdest jetzt mit mir reden." Ihre Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich schüttel den Kopf. Natürlich versucht Thore, mir zu helfen, doch gleichzeitig ist es nicht so einfach, wie er denkt. Delfina sieht mich erwartend an, während ich versuche, ihrem Blick aus dem Weg zu gehen.

„Woher kennst du meinen Namen?", stelle ich ihr die erste Frage und sehe ihr zum ersten Mal in die Augen. Die gleichen Augen wie sie.

„Eliana hat mir, kurz nachdem ihr euch kennen gelernt habt, einen Brief geschickt mit einem Bild von dir. Darin hat sie geschrieben, sie hätte nun endlich ihr Lebensglück gefunden und ich sollte mir keine Sorgen machen." Eliana. Wie lange ist es her, dass ich ihren Namen gehört habe? Eine Träne rollt über meine Wange, die ich so schnell wie möglich wegwische.

„Freut mich, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Eliana, aber du darfst mich Eli nennen", erklingt ihre Stimme in meinem Kopf, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe.

„Wie geht es ihr?" Delfina sieht mich fragend an und ich schlucke. Sie weiß es gar nicht. Aber wer hätte es ihr auch sagen können? Ich blicke in ihre Augen und es fühlt sich an, als würde ich Eli ansehen. Hastig wende ich den Blick wieder an.

"Verdammt, ich kann das nicht", sage ich ein bisschen lauter als gewollt und sofort sehen die anderen in unsere Richtung.

„Was ist los?" Thore wirft uns besorgte Blicke zu und zweifelt wahrscheinlich gerade, ob es eine gute Idee gewesen ist, mir ein bisschen zu helfen.

„Ich weiß es nicht", höre ich noch am Rande und langsam verschwimmt meine Sicht.

„Du bist Zwilling? Also bist du vielseitig und offen." Ihre Stimme sowie ihr nachfolgendes Lachen erklingt in meinem Kopf. Ich erinnere mich sofort an diesen Tag, kurz nach unserem ersten Treffen. Wir haben zusammen im Park gesessen, die Sterne beobachtet, gepicknickt und nebenbei herumgealbert.

„Und du als Schütze bist ..." Unauffällig habe ich auf mein Handy gelinst, ehe ich den Satz vervollständigt habe.

„Freiheitsliebend und spontan." Bei meinen Worten ist ihr ein Lachen entfahren, bevor sie um mich herumgegriffen hat und mir mein Handy weggenommen hat.

„Erwischt!" Bei der Erinnerung daran rollt mir eine Träne über die Wange. Ich höre, wie jemand meinen Namen ruft, doch nehme es gar nicht richtig wahr. Stattdessen erinnere ich mich nur noch an tausend weitere Moment mit ihr, die nicht hätten schöner sein können.

„Ich liebe dich, Phileas, ich liebe dich." Zu der ersten Träne gesellt sich noch eine und dann noch eine. Immer mehr fließen meine Wangen herunter und die Mauer, die ich all die Jahre um diese Erinnerungen herum aufgebaut habe, bricht in einem lauten Knall in sich zusammen. Immer wieder habe ich diese Gedanken verdrängt, doch nun scheinen sie mit aller Kraft wiederzukommen.

„Phileas, ich habe dich gesucht. Du verschwindest immer wieder. Wohin eigentlich?", höre ich Ace fragen, so wie er es damals getan hat.

„Das ist nicht wichtig. Was willst du denn vor mir?", habe ich damals gesagt. Bis heute ist mir nicht klar, wieso ich sie von allem ferngehalten habe. Ob es vielleicht meine Angst gewesen ist, dass sie die Wahrheit über mich und meine Familie herausfindet? Oder doch mein Beschützerinstinkt, der sie von allem Gefährlichen fernhalten wollte? Doch am Ende hat es doch sowieso nichts gebracht.

„Phileas, was ist los mit dir?", schreit sie, doch ich bin mir nicht sicher, ob sie diese Worte je gesagt hat. Ich spüre, wie meine Augen langsam zu fallen, wobei ich vor lauter Tränen schon nichts mehr sehen konnte. Stattdessen lande ich nun in einem einzigen Alptraum.

„Du bist schuld, du allein", erklingen immer wieder verschiedene Stimmen. Plötzlich taucht eine Gestalt in der Dunkelheit auf.

„Du bist mein Sohn. Wir sind uns ähnlicher, als du denkst", sagt mein Vater und lächelt. Ein Lächeln, bei dem ich weiß, jetzt kann nichts Gutes kommen. Am liebsten würde ich nun abhauen, verschwinden und diese Gedanken für immer aus meinem Gedächtnis verbannen. Doch ich kann mich nicht bewegen. Langsam kommt die Dunkelheit immer näher, sie scheint mich förmlich zu verschlingen. Doch immer wieder höre ich ihre Stimme, ihr Lachen.

„Phileas, wach auf. Das ist ein Alptraum", meint sie, sowie damals. Aber diesmal kann ich nicht aufwachen, kann sie mich nicht wecken, weil sie nicht hier ist.

„Sie hat dich verlassen, genau wie alle anderen. Es ist deine Schuld." Ich habe es schon lange aufgegeben, mich gegen seine Worte zu wehren. Stattdessen erdulde ich sie, wie jemand, dessen Schicksal schon besiegelt ist. In meinen Gedanken sehe ich Kate und Newt an einem Tisch sitzen. Nur die beiden. Sie unterhalten sich, Kate lacht und Newt macht ausschweifende Handbewegungen, so wie immer, wenn er etwas erzählt. Zumindest hat er das früher getan. Sie wirken so glücklich. Selbst, wenn ich weiß, dass es wahrscheinlich nur ein Streich von meinem Kopf ist, so kann ich es dennoch nicht als Lüge ansehen.

„Vielleicht kannst du mein Rudel verlassen, mich verlassen, aber denk daran, dass ich immer ein Teil von dir sein werde, so wie du von mir", ertönt wieder die Stimme von meinem Vater in meinem Kopf. Die Stimme, die ich eigentlich nie wieder hören wollte.

„Hau ab", schreie ich in meinem Kopf, doch gleichzeitig taucht sein Lächeln wieder vor meinem inneren Auge auf.

„Irgendwann wirst du wieder zu mir zurückkommen, irgendwann wirst du merken, dass du nicht ohne mich leben kannst. Spätestens im Tod werden wir vereint sein, da wir schließlich beide im selben Teil der Hölle landen werden." Sein Lachen erklingt, ich will mir die Ohren zu halten, doch es klingt einfach weiter.

„Verschwinde", schreie ich.

„Ich verspreche dir, wir werden uns wieder sehen." Noch einmal blicke ich seine Augen. Die Augen, die meinen so ähnlich sind. Danach wird alles schwarz um mich herum.

Der schwarze BetaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt