27. Kapitel

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Alissa

Meine Augen fangen an zu tränen und ich blinzel mehrmals. Aber als auch das nicht hilft, wische ich mir die Tränen hastig mit dem Handrücken weg. Die anderen sollen bloß nichts merken, schon gar nicht Scott. Ich hebe meinen Blick und starre in seinen Rücken, genau in diesem Moment dreht er sich um und schenkt mir ein schiefes Lächeln. Wie sehr ich ihn doch bewundere. Eilig senke ich mir meinen Blick, da ich nicht weiß, wie gerötet meine Augen sind. 

Seine Mate ist noch nicht lange tot und trotzdem schafft er es, wieder zu lachen und leben, als wäre alles in Ordnung. Ich hingegen denke nur kurz an meine Mutter, die seit Jahren tot ist und fange schon wieder an, zu helfen. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und versuche, die anderen einzuholen. Ein Unterfangen, das sich als schwieriger herausstellt, als gedacht, da ich noch nicht gut mit Pferden umgehen konnte. 

Automatisch muss ich lächeln, als ich daran zurückdenke, wie Scott versucht hat, mir zu helfen. In diesem Moment habe ich meine Furcht vor Pferden für einen kurzen Augenblick vergessen. Einen Augenblick vergessen, was geschehen ist und noch geschehen wird. Dafür bin ich viel zu sehr darauf fixiert gewesen, das Umzusetzen, was er mir geraten hat. Danach wollte er auch noch ein Gespräch mit mir beginnen und ich mache den großen Fehler, in dem ich an meine Mutter denke. 

Während wir weiterreiten, vergleiche ich die Umgebung stillt mit der damals. Scheinbar nehmen wir genau den gleichen Weg, wie vor Jahren, denn es hat sich nichts verändert. Jeder Stein, jeder Stock und jeder Baum sieht fast schon genau wie früher aus. Damals bin ich mit Damara auf einem Pferd geritten, ich saß vor ihr und sie hielt mich die ganze Zeit fest im Arm. 

Erst später ist mir klar geworden, das sie wahrscheinlich schon wusste., was passieren würde und mir somit ein bisschen Halt geben wollte. Mir klar machen, dass nachdem meine Mutter tot wäre, es immer noch jemanden gibt, an den ich mich wenden kann. Seit ich ihr das erste Mal begegnet bin, ist sie immer in meiner Nähe gewesen. Sie hat auf mich geachtet, wie eine Mutter auf ihr eigenes Kind. Sie hat mir immer wieder zugehört und mir gute Ratschläge gegeben, wie es Freundinnen es tun. 

Bis heute ist mir nicht klar, was sie genau für mich ist, eine Mutter oder eine Freundin. Wahrscheinlich irgendetwas dazwischen und vielleicht ist genau das der Grund, warum wir uns immer noch so gut verstehen. Plötzlich fällt mein Blick auf eine knorrige Eiche, die am Rand steht. Ihre Äste reichen weit über den Weg hinaus und das Blätterdach bietet besonders viel Schutz vor der Sonne. 

Zwar gibt es davon hier im Wald genug, trotzdem sticht sie heraus, wie eine weiße Lilie in einem roten Rosenstrauch. Jeder einzelne Baum hier im Wald wächst gerade gen Himmel, als wäre sein einziges Ziel, bis zu den Sternen zu reichen. Sie hingegen wächst mal in die eine und mal in die andere Richtung. Wie jemand, der noch unentschlossen ist, für welchen Weg er sich genau entscheidet. Jemand, der immer wieder mit sich selbst hadert und seinen inneren Frieden noch nicht ganz gefunden hat. Jemanden, wie mich. 

Nach all der Zeit weiß ich immer noch nicht, wo ich hingehöre. Gehöre ich auf die Erde oder in die kalte Welt? Gehöre ich zu den Lehrenden oder zu den Heilern? 

„Alles in Ordnung?" Eine Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken und verwirrt sehe ich Niklas an, der sein Pferd neben mich gelegt hat. 

„Natürlich, wieso sollte es nicht?" 

„Du sahst so in deine Gedanken vertieft es, tut mir leid, wenn ich dich gestört habe, aber ich wollte mit dir über etwas reden." 

„Keine Sorge, du hast mich nicht gestört. Also worüber möchtest du mit mir reden?" Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Es wäre unfair, wenn ich jetzt an ihm meine schlechte Laune auslasse. 

„Es geht um Scott." Er mustert mein Gesicht genau, wahrscheinlich um zu wissen, wie ich reagiere.

 „Was ist mit Scott?" Ich kann nicht verhindern, dass mindestens ein kleiner Hauch von Sorge in meiner Stimme mitschwingt und langsam bildet sich auf Niklas Gesicht ein Lächeln ab. 

„Du magst ihn also auch?" Selbst, wenn es eine Frage ist, klingt es mehr wie eine Feststellung. Peinlich berührt senke ich den Blick und merke, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Mag ich Scott? Mag ich ihn mehr als einen normalen Freund? Keine Frage, irgendwas ist da zwischen uns, er scheint mich besser zu verstehen, als jeder andere. Aber was das genau ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen. 

Doch dieses kleines „auch" in Niklas' Satz, lässt mein Herz augenblicklich schneller schlagen und eine angenehme Wärme breitet sich in mir aus. Bedeutet es, dass Scott mich mag? Bei diesem Grund bildet sich ein Lächeln auf meinen Lippen. Aber schon im nächsten Moment reißt mich jemand wieder aus meinen Gedanken. 

„Hier bei dem Mondhaus machen wir Pause." Mit einer kleinen Bewegung der Zügel bringt Damara ihr Pferd zum Stehen. Für ihre besondere Bindung zu Tieren habe ich sie schon immer bewundert. Auch mein Pferd bleibt stehen, als ich hastig an den Zügeln ziehe. Mein Blick wandert zu dem Mondhaus, dessen Ecken durch vier umstehende Bäume gekennzeichnet werden. Es sieht immer noch genauso aus, wie damals, als wir hier vorbeigeritten sind. 

Damals ist meine Mutter zum Beten reingegangen, doch als ich ihr Folgen wollte, hat Damara mich zurückgehalten. Schließlich ist sie wieder mit geröteten Augen herausgekommen und ich als naives Mädchen habe gedacht, sie hätte eine Allergie entwickelt. Erst später ist mir klar geworden, was da drinnen passiert ist. Wahrscheinlich wusste meine Mutter auch, wie die Entscheidung der Alphas ausfallen würde, nur ich, dass naive, kleine Mädchen wusste es nicht. Als wir schließlich abgestiegen sind und die Pferde festgebunden haben, bleibe ich ratlos stehen, bis ich eine Entscheidung treffe. 

"Ich bin mal eben kurz beten." Mein Blick schweift dabei zu Damara, die mich mit einem Lächeln bedacht, dass mir zeigt, dass es ihr schon vorher klar gewesen ist. 

"Warte, ich komme mit." Verwundert drehe ich mich um, als ich meinen Fuß auf die erste Stufe setze. Scott kommt auf mich zugeeilt und bei dem Lächeln auf seinen Lippen fängt mein Herz an, schneller zu schlagen, als es jetzt schon tut. 


Gemeinsam betreten wir nun das kleine Mondhaus, die heilige Stätte für uns Werwölfe. In der Mitte des Raumes gibt es ein Loch im Boden, durch das eine Blume wächst. Bei dem Schein der Sonne draußen verbirgt sie noch ihre wahre Schönheit, doch auch so ist sie schon bewundernswert. Ansonsten ist der Raum leer und bis auf ein Fenster sind auch die Wände nur aus Holz. 

Langsam falle ich vor der Blume auf die Knie, als wäre sie eine Königin und ich eine Untertanin. Scott's Anwesenheit habe ich schon wieder vergessen, stattdessen treten mir mit jedem Moment mehr Tränen in die Augen. Hat sie damals auch hier gekniet und um ihr verlorenes Leben geweint? Hat sie dafür gebetet, dass es mir gut ergehen würde oder doch dafür, dass die Alphas sich anders entscheiden? Frage für Frage wird mir immer mehr bewusst, dass ich nie eine Antwort erhalten werde. 

Genauso wenig wie die anderen Male, die ich schon hier gehockt habe und mir die gleichen Gedanken durch den Kopf geschwirrt sind. Jedes Jahr an ihrem Todestag komme ich hierher, um wenigstens einmal meiner Trauer freien Lauf zu lassen. Mittlerweile fließen mir die Tränen hemmungslos über meine Wangen und langsam spüre ich, wie mich jemand von hinten in den Arm nimmt. Ohne darüber nachzudenken, lehne ich mich an die andere Person und vergrabe mein Gesicht in ihrem T-shirt. 

"Alles wird gut. Du bist nicht allein." Die Stimme von Scott erschrickt mich gleichermaßen, wie sie mich beruhigt. Eigentlich wollte ich nicht, dass er mich so sieht, so schwach und verletzlich. Doch gleichzeitig tut es mir ungemein gut, ihn an meiner Seite zu wissen. Langsam nimmt der Tränenstrom ab, bis alle Tränen geweint sind. Erschöpft stütze ich mich noch mehr an ihn und als ich wieder die Augen öffne, erscheint ein helles Licht vor mir, so dass ich sie geblendet wieder zusammenkneife.

Der schwarze BetaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt