Scott
Während des Ritts bin ich größtenteils neben Ben geblieben. Dieser ist immer noch ein bisschen schläfrig von dem Schlafmittel. So bin ich meistens damit beschäftigt, sein Pferd etwas zu lenken oder ihm ein Mittel gegen die Schmerzen zu geben. Zudem kann ich mich somit mit meinen Gedanken von Alissa und Niklas ablenken. Auf der anderen Seite hat von ihnen aber auch keiner versucht, mich anzusprechen.
„Wie geht es ihm?" Kilian ist auf meine Höhe gekommen und wirft Ben einen besorgten Blick zu.
„Es geht ihm der Situation entsprechend gut. Er nickt immer mal wieder ein und verspürt wegen den Schmerzmitteln nur leichte Schmerzen. Daher habe ich auch vor, langsam die Dosis zu verringern, damit wir wissen, wann die Schmerzen vorbei sind." Ich werfe Ben einen kurzen Blick zu, der wieder dabei ist, wegzudämmern.
„So langsam verstehe ich, warum du irgendwann Adriana's Stellvertreter wirst." Verwirrt blicke ich zu Kilian, da ich keine Ahnung habe, wie er nun auf dieses Thema kommt.
„Na ja, du kümmerst dich um Ben, obwohl du es nicht muss und auch nicht der einzige bist, der es tun kann. Zudem kennst du ihn noch nicht mal so gut." Ein Lächeln taucht auf meinen Lippen auf, obwohl ich weiß, dass ich bei weitem nicht so gut bin, wie Kilian mich gerade darstellt.
„Scott!" Die Stimme von Newt bewahrt mich davor, etwas zu erwidern. Gezwungenermaßen lässt Kilian sich nach hinten fallen, während Newt seinen Platz an meiner Seite einnimmt. Scheinbar werde ich heute als Gesprächspartner sehr hoch geschätzt.
„Was ist?" Meine Stimme klingt leicht genervt, doch Newt schient dies entweder nicht zu hören, oder zu ignorieren.
„Ich brauche deinen Rat." Innerlich stöhne ich bei Newt's Worten auf. Erst musste ich Alissa verletzen, dann wollte Niklas Weltverbesserer spielen, Kilian hat mir vor Augen geführt, dass ich bei weitem nicht so gut bin, wie andere denken, mit seinem Kompliment und jetzt soll ich auch noch Therapeut sein? „Nikita hat mich gefragt, ob ich hierbleiben möchte", beginnt er, ohne auf einer Antwort von meiner Seite aus zu warten. „Einerseits hält mich nichts auf der Erde. Zumindest fast nichts. Wegen Phileas würde ich bleiben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt in irgendeiner Weise eine Beziehung zueinander haben. Wir reden kaum miteinander. Was würdest du machen?" Ich verstehe sofort, was er meint. Hätte Damara oder sogar Alissa mich gefragt, ob ich hierbleiben möchte, wüsste ich nicht, was ich tun sollte.
„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube auch, dass dir bei dieser Frage niemand helfen kann, höchstens Phileas. Vielleicht solltest du bei dem Treffen mit ihm darüber reden und dann kannst du Nikita später eine Antwort geben." Auf meinen Vorschlag hin nickt er einfach nur nachdenklich.
„Danke, Scott. Falls du irgendwann mal einen Rat brauchst, kannst du gerne zu mir kommen." Auf sein Angebot werfe ich ihm nur ein kurzes dankbares Lächeln zu. Am liebsten würde ich ihn jetzt direkt um Hilfe bitten, doch auf der anderen Seite bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich mit ihm darüber sprechen möchte.
„Vielleicht kannst du mir jetzt schon helfen. Ich habe momentan ein bisschen Streit mit zwei sehr guten Freunden von mir. Den Einen habe ich verletzt, weil ich es einfach für das Beste für uns beide halte. Der Andere ist sauer auf mich, weil ich gerade das gemacht habe."
„Wir reden hier von Niklas und Alissa, oder?" Newt blickt mich wissend an und ich nicke einfach nur.
„Ich weiß zwar nicht, wer von beiden, wer ist, aber wenn du von dem Ersten sprichst, hört es sich für mich einfach nur so an, als ob du Angst hättest. Angst, dass der unwahrscheinlichste Fall, der euch beide verletzen könnte, eintritt. Aber manchmal muss man auch einfach das Risiko eingehen, denn was man gewinnen könnte, ist so viel besser, als das, was man verlieren könnte." Ich erwidere nichts auf seinen Ratschlag, da ich erstmal drüber nachdenken muss. Aber innerlich weiß ich, dass er recht hat. Ich habe Angst. Wie oft habe ich mir das schon von Adriana anhören müssen. Doch bin ich wirklich soweit, über meinen Schatten zu springen und mich meiner Angst zu stellen?
„Danke, mal sehen, ob ich mit diesem Ratschlag etwas anfangen kann."
„Diesen Ratschlag hat Kate mir damals gegeben, als ich nicht wusste, ob ich nach Phileas suchen sollte. Ich hatte Angst, euch zu verlieren und ihn trotzdem nicht zu finden. Zwar habe ich ihn gefunden, doch du siehst, was passiert ist. Trotzdem würde ich jedes Mal das Gleiche machen, weil ich auf meinem Weg neue Menschen kennen gelernt habe und immer wieder positiv überrascht worden bin. So ist zumindest meine Sichtweise der Dinge." Ich nicke, wobei ich mich noch genau an diese Zeit erinnern kann. Er ist fast durchgängig damit beschäftigt gewesen, darüber nachzudenken und alle möglichen Szenarien durchzugehen. Wortlos setzen wir unseren Weg fort und ich richte meine Aufmerksamkeit wieder ein bisschen mehr auf Ben. Gerade, als ich etwas aus hinteren Satteltasche holen muss, gleitet mein Blick nach hinten und erschrocken halte ich die Luft ein.
„Newt!" Dieser blickt sich verwirrt um und braucht ein bisschen, bis er merkt, was ich meine. Ruckartig bringen wir unsere Pferde zum Stehen.
„Nicht schon wieder", stöhnt er auf und ich werfe ihm einen fragenden Blick zu.
„Nicht schon wieder?"
„Bevor wir auf Nikita getroffen sind, ist Kilian schon einmal spurlos verschwunden." Ich nicke einfach nur, ehe ich mich wieder nach vorne drehe. Der Hauptteil der anderen hat sich mittlerweile auch zu uns umgedreht, wobei die meisten das Verschwinden von Kilian noch nicht so ganz registriert haben zu scheinen.
„Kilian ist verschwunden", kläre ich sie auf und augenblicklich zeichnet sich in den meisten Gesichtern Erkenntnis sein.
„Wo kann er nur hin sein?"
„Wann ist er denn ungefähr verschwunden?" Auf einmal sprechen alle durcheinander, sodass man langsam kein Wort mehr verstehen kann. Damara beobachtet das Ganze erstmal, bevor sie sich einmischt.
„Ruhe, jetzt alle!" Sofort schweigt jeder, als hätte sie einen magischen Knopf gedrückt.
„Mir ist klar, dass ihr euch Sorgen um Kilian macht, aber wir müssen auch gucken, dass wir so schnell wie möglich beim Alphatreffen ankommen. Deswegen mache ich euch jetzt einen Vorschlag. Alissa, du wirst die anderen weiter in diesem Tempo zum Treffpunkt bringen. Nikita und ich werden die nähere Umgebung so schnell wie möglich absuchen und dann nachkommen. Entweder wir finden ihn oder nicht. Aber auf der anderen Seite kann er ja noch gar nicht so weit gekommen sein." Widerwillig nicken Newt und ich, da wir kaum eine andere Wahl haben.
Als auch Nikita dem Kompromiss zugestimmt hat, hören wir plötzlich ein Wiehern. Wir drehen uns um und ich entdecke das Pferd, das gerade Wegs auf uns zurast. Ich brauche nur wenige Sekunden, um festzustellen, dass das das Pferd von Kilian ist. Mir stockt der Atem und nur kurz vor mir kommt es schlittern zum Stehen. Auf der einen Seite kann ich vier lange Krallenspuren ausmachen. Sie scheinen aber nicht sonderlich tief zu sein, da sie nicht sonderlich bluten. Aber die Form erinnert mich an Krallen. An die Krallen eines Werwolf. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter.
„Das ist das Pferd von Kilian und das bedeutet ganz sicher nichts Gutes", spricht Newt meinen Gedanken aus. Ich werfe Damara einen kurzen Blick zu, doch sie schüttelt den Kopf.
„Ich weiß, dass ihr euch um euren Freund sorgt. Doch wir werden es so machen, wie besprochen." Mit einem letzten Blick in Nikita's Richtung wendet sie ihr Pferd und zusammen und zusammen machen sie sich auf die Suche nach Kilian. Wir bleibe noch einen kurzen Moment an Ort und Stelle, ehe auch wir uns auf den Weg machen. Aber ich kann mich in keiner Weise konzentrieren. Stattdessen spielen sich in meinem Kopf alle möglichen Szenarien ab, was mit Kilian passiert sein könnte. Doch ich kann jetzt einfach nur hoffen, dass sie ihn finden, bevor ihm irgendwas passiert. Nicht mehr und nicht weniger.

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Der schwarze Beta
Lobisomem2. Teil von "Die weiße Alpha" (direkte Fortsetzung) Adriana wollte eigentlich allem, was passiert war, den Rücken zukehren. Aber dann bekommt sie unerwarteten Besuch und mit ihren Freunden begibt sie sich auf eine Reise, um die schwarzen Wölfe zu be...