Teil 2 - Spiele

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40. Alleine

Die Welt verstummt. Ein Spotttölpel stößt ein Warnschrei aus, der das Hovercraft ankündigt, das kommt, um die Leichen mitzunehmen. Ich schaue zu den Vögeln hinauf, die sich still und leise in ihren Nestern verkriechen. Sie hören vermutlich die Motoren des Hovercrafts. Katniss und ich gehen stumm nebeneinander her. Ein letztes Mal, bevor sich unsere Wege fürs erste trennen. Schon bald hebt das allgemeine Waldorchestra wieder an und bedeutet mir, dass Rue für immer fort ist.

Ich weiß nicht wohin ich gehen soll. Die Arena kommt mir auf einmal so groß und weit vor und ich mir so klein wie noch nie. Mein Inneres ist taub und gleichzeitig voller Gefühle, die ein wahlloses Chaos anrichten. Ich weiß nur noch, dass ich mich irgendwo zusammenkugeln und in den Erdboden verschwinden will. Ich will trauen können, ohne dass Kameras auf mein Gesicht zoomen und wildfremde Menschen meinen Gefühlsausbruch kommentieren. Ich will alleine sein, alleine mit der Natur und den Tieren.

„Was habt ihr am Lagerfeuer gemacht?", fragt Katniss und durchbricht unerwartet die Stille. Ihre Stimme ist schwach und rau vom Weinen. Ihr geht es genauso schlecht wie mir. Und vor allem braucht sie Antworten, die nur ich ihr geben kann. Deswegen sind wir noch gemeinsam unterwegs. Eine letzte Gefälligkeit, dann heißt es Tschüss und bis wir uns im Kampf wiedersehen.

„Rue und ich haben dich gesucht", antworte ich ihr. Meine Stimme klingt ebenfalls rau und voller Trauer. Ich schlinge die Arme um die Brust, um das Loch zu füllen, das Rues Tod hinterlassen hat. Die Wahrheit jedoch ist, dass nichts auf der Welt diesen Verlust ersetzen kann. „Wir hatten Sorge, dass du bei den Explosionen ums Leben gekommen bist. Als wir am Abend dein Bild nicht gesehen haben, wussten wir, dass dir nicht passiert ist. Rue und ich wollten dich suchen, also sind wir zurück zu den Lagerfeuern. Rue wollte sich unbedingt trennen, damit wir dich schneller finden konnten. Es ist meine Schuld, dass Marvel Rue gefangen hat. Ich habe Rue nicht davon abbringen können, dich getrennt suchen zu gehen."

Katniss widerspricht mir nicht. Sie sagt mir nicht, dass es nicht meine Schuld gewesen ist. Sie sagt mir auch nicht, dass Rue nun mal so dickköpfig sein kann und sie dann niemand von ihrem Plan abhalten kann. Nein, Katniss gibt mir die Schuld an allem. Und ich gebe sie mir auch. Ich hätte mich mehr durchsetzen müssen.

„Warum habt ihr das dritte Lagerfeuer nicht angezündet?", fragt Katniss weiter.

„Weil die Karrieros kamen. Wir haben zu viel Zeit mit dem zweiten verschwendet, also ist Rue losgelaufen um das dritte anzuzünden. Die Explosionen haben die Karrieros zurück zu ihrem Lager gelockt, so dass ich Rue folgen konnte. Nur hat sie das dritte nicht erreichen können. Tara aus Distrikt vier hat sie abgefangen um sich an mir zu rechen. Ich hab sie verletzt und konnte mit Rue flüchten." Meine Stimme versagt. Dieses Mal konnte ich Rue nicht retten. Es ist meine Schuld, dass sie tot ist.

Wieder verfallen wir in Schweigen. Wir gehen weiter, getrieben von den Drang nicht alleine zu sein. Keiner von uns beiden war lange genug alleine um zu wissen, wie es ist, einsam durch die Arena zu ziehen. Vor allem ich weiß nicht, welche Monster aus meinem Inneren hochkommen, jetzt wo ich einsam bin. Katniss und ich bleiben zusammen, weil es Rues Wille gewesen wäre, doch wir können ihr diesen Willen nicht erfüllen. Katniss und ich haben nichts gemeinsam. Nicht mehr.

Das leise Piepsen eines Fallschirms lässt uns stehen bleiben. Hoch aus den Bäumen segelt ein silberner Fallschirm zu uns hinab, der zwischen Katniss und mir landet. Es ist ein Geschenk eines Sponsors. Aber für wen ist es? Für Katniss oder für mich? Und vor allem, warum jetzt?

Ich bücke mich zu dem kleinen Fallschirm hinab und öffne die kleine Metallbox, die an dem Fallschirm hängt. In der Metallbox befindet sich ein kleiner Laib Brot. Es ist keines von unseren, das mit Mehl bestreut ist oder eines der feinen weißen aus dem Kapitol. Es ist sichelförmig und aus dunklem Rationsgetreide, mit Körnern bestreut. Ich habe so eins schon im Trainingscenter gesehen. Rue und Thresh haben es immer gegessen, es stammt also aus Distrikt 11. Langsam hebe ich das noch warme Laib Brot auf. Was muss es den Bewohnern von Distrikt 11 gekostet haben, wenn sie sich noch nicht einmal selbst ernähren können? Wie viele Familien mussten sich da Geld vom Mund absparen um es sich leisten zu können? Sie müssen für Rue gesammelt haben, bevor sie gestorben ist. Nun müssen sie Enobaria und Haymitch, Katniss Mentor, ermächtigt haben, es uns zu schicken. Wahrscheinlich haben sie gesehen, was Katniss und ich für Rue getan haben und schicken es als Dankeschön. Aber vielleicht soll es ein Ausgleich sein, weil auch sie nicht gerne in jemandes Schuld stehen. Es ist ein auf jeden Fall eine Premiere. Ein Geschenk aus einem anderen Distrikt und dann auch noch für zwei Tribute aus zwei weiteren unterschiedlichen Distrikten.

Hungerspiele - Überlebenskampf [Finish]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt