Teil 1 - Tribute

875 32 0
                                    

18. Enobaria

   „Es tut mir leid“, entschuldige ich mich. „Das wusste ich nicht.“ Ich will mich nicht entschuldigen. Wofür auch? Cato hat doch recht; eigentlich gehöre ich auch zu einer Avox gemacht, so oft wie ich mich schon gegen das Kapitol aufgelehnt habe. Ein bizarrer Gedanken formt sich in meinen Kopf, für den ich mich selbst liebend gerne schlagen würde. Olas hat der Tod gar nicht schwer getroffen, wenn man bedenkt, dass die Alternative ist, ohne Zunge und ohne Möglichkeit der Flucht, ein Leben lang einer reichen Familie im Kapitol dienen zu müssen. Doch wenn er ein Avox wäre, dann wüsste ich wenigstens, dass er noch lebt, es ihm halbwegs gut geht und ich eine Chance hätte ihn irgendwann wieder zu sehen. Doch der Tod so schrecklich endgültig, dass es mein Herz zusammenpresst und ich erneut gegen die Tränen ankämpfen muss.

   „Natürlich weißt du das nicht. Woher auch? Du bist ein armes Ding. Ein armes Ding aus Distrikt 2“, sagt Jade mitfühlend und damit verpufft sie angespannte Stimmung mit einem Schlag.

   Ja, woher soll ich auch wissen, was ein Avox ist? Bei uns wird man sofort gerichtet, wenn man ein Fehler macht. Ich bin wirklich nur ein armes Ding aus Distrikt 2. Ich bin nicht anders als die anderen Tribute die vor mir gestorben sind und noch nach mir sterben werden. Wir sind nur die armen Distrikt-Kinder, an denen das Kapitol seine unerschütterliche Macht auslassen kann.

   Wir essen die Torte, wobei ich eher drin herumstochere, was mir einen Blick von Jasper beschert. Dann gehen wir rüber ins Fernsehenzimmer, um uns die Wiederholung von der Eröffnungsfeier anzuschauen. Ich muss sagen, von den Kostümen her, übertreffen Cato und ich die anderen Tribute um Längen. Denn selbst Distrikt 1 sieht im Gegensatz zu uns einfach nur lächerlich aus. Beeindruckend ist, wie grazil Cato und ich aussehen, obwohl wir genauso wenig machen wie die anderen Tribute. Was ich im Nachhinein bereue, denn Distrikt 12 hält Händchen und strecken sie in die Lüfte, während sie in Flammen stehen. Wir dagegen sehen einfach aus wie Götter, erhaben und wachsam, trotzdem zum Niederknien. Obwohl ein bisschen mehr Bewegung oder Zuneigung uns sicherlich mehr als Göttin und ihren Krieger ausgezeichnet hätte.

   „Wer hatte die Idee mit den Blitzen und dem Wind?“, fragte Rex überaus begeistert. In seinen Augen spiegelt sich die Szene, in der immer wieder Blitze in Catos erhobenem Schwert einschlagen.

   „Prix natürlich“, sagt Jasper und alle wenden seiner Kollegin den Kopf zu. Augenblicklich wird diese rot um die Nasenspitze herum.

   „Ach, das war doch nichts“, winkt sie peinlich berührt ab. „Ich hab nur zufällig mitbekommen, wie die Stylisten von 12 etwas mit Feuer geplant haben. Da dachte ich mir, sei noch gefährlicher.“ Wieder wird sie rot, dieses Mal noch ein tacken dunkler, und sie wendet ihren Blick auf den cremefarbenen Teppich, der in diesem Raum ausgelegt ist.

   Und damit wechselt das Gesprächsthema von Blitzen zu Distrikt 12, die in diesem Jahr äußerst stark erscheinen und vielleicht eine Gefahr für uns darstellen. Jade regt sich wieder über Effie Trinket auf und ihrer Erzählung aus Kohle könnte man Perlen herstellen und Prix und Rex führen eine rege Diskussion darüber, warum ein so begabter Stylist unbedingt zu zwölf will. Cato und Enobaria unterhalten sich darüber, ob Katniss und Peeta auch noch stark um Überleben sind. Denn dann sind sie wirklich eine Gefahr für uns, oder eher für ihn, denn ich zähle in seiner Welt äußerst wenig.

   Ich halte mich lieber aus den Gesprächen raus. Mein Blick liegt auf dem Bildschirm, auf dem Katniss Gesicht ist, fast frei von Make-UP und trotzdem ausdrucksstark. Unweigerlich muss ich mich daran erinnern, wie sie sich gestern für ihre Schwester gemeldet hat, das kleine zwölfjährige Mädchen mit dem blonden Haar und der Bluse, die hinten nicht im Rock bleiben wollte. Katniss muss ihre Schwester über alles lieben, um sich freiwillig in den Tod zu begeben. Noch nie zuvor hat sich jemand aus Distrikt 12 freiwillig gemeldet. Die Geschwister schauen einfach nur stumm zu, während ihr Bruder oder ihre Schwester die Bühne betritt, egal welchen Alters. Katniss hat damit nicht nur unheimlich großen Mut bewiesen, sondern auch eine unendliche Liebe für ihre Schwester. Eine so starke Liebe, die nur daher rühren kann, dass etwas sie zusammengeschweißt hat, vielleicht der Nahe Tod.

Hungerspiele - Überlebenskampf [Finish]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt