Teil 3 - Sieger

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52. Fuchsgesichts Tod

Ich lasse Cato meinen Rucksack da, die Waffen behalte ich. Ich will nicht allzulange weg bleiben und er hat mir versprochen, sich nicht von der Stelle zu rühren, weswegen ich das Risiko eingehe, meinen Rucksack bei ihm zu lassen. Ich will nur etwas jagen und dann zurück kommen. Der Wald ist groß, wir sind weit weg von der Wiese mit dem Füllhorn. Thresh wird uns so schnell nicht finden. Trotzdem werde ich nicht so weit weggehen. Cato soll mir noch zur Hilfe eilen können, wenn etwas passieren sollte. Bevor ich gehe, bringt mit Cato seine Melodie bei, die Tara und er verwendet haben. Ich soll sie immer wieder pfeifen, damit er weiß, dass bei mir alles in Ordnung ist.

Ich fühle mich, als wäre es mein erstes Mal auf der Jagd. Ich traue mich nicht, mich zu weit von Cato zu entfernen, auch wenn ich die Tiere in weiterer Entfernung im Unterholz hören kann. Nur langsam fasse ich mir ein Herz und lasse Cato Stück für Stück hinter mir. Mein Bein macht mir zu schaffen. Ich kann es nicht kontrolliert genug anheben, um Geräusche zu vermeiden. Ich versuche es mit Hinhocken und abwarten. Danach komme ich aber nicht mehr hoch. Ich muss mich erst zu dem nächsten Baum ziehen und mich am Baumstamm festklammern und hochstemmen, damit ich wieder aufstehen kann.

Nach längerer Zeit erlege ich dann doch einen großen Hasen. Erleichtert, endlich wieder zurück zu Cato zu können, will ich mich auf den Rückweg machen. Unterwegs sammele ich noch so viele Wurzeln, Kräuter und Beeren, wie es mein schwaches Bein erlaubt. Ununterbrochen pfeife ich die Catos Melodie vor mich hin, die sofort von den Spotttölpeln aufgegriffen wird. Bald bin ich hier raus. In wenigen Tagen, dann ist alles vorbei.

Unterwegs wage ich mich ein Stück tiefer in den Wald. Die Beeren die ich finde riechen süßlich. Weil ich sie nicht kenne, aber ihr Aussehen nicht misstrauenserweckend erscheint, packe ich sie zu meinen übrigen gesammelten Dingen in den Fallschirm, denn ich mich an meinen Gürtel gebunden habe. Ich mache mich auf den Rückweg. Ich schaffe es sogar, einen jungen Grusling zu erlegen, der vor meinen lauten Schritten aus dem Unterholz flieht.

Als ich an die Stelle komme, wo ich mich von Cato getrennt habe, ist er nicht da. Sofort setzt mein Herzschlag aus. Panik überkommt mich. Ich will schon nach ihm rufen, bis ich sein Pfeifen in der Nähe höre. Die Spotttölpel nehmen seine Melodie nicht auf, seine Stimme ist ihnen nicht harmonisch genug. Doch mich beruhigt schon der leise Klang in der Ferne. Erleichtert lasse ich mich zu Boden gleiten und nehme meine Beute aus. Hier und da antworte ich auf Catos Pfeifen, damit er weiß, dass es mir auch gut geht.

Plötzlich durchschneidet eine weitere Melodie die Luft. Es ist nicht Rues Melodie, sondern ein zweitöniger Pfiff. Automatisch greife ich nach meinem Schwert. Doch es behindert mich beim Aufstehen, weswegen ich es wieder in die Scheide gleiten lasse. Wieder muss ich mich erst zu einem Baum schleppen, um mich mit Hilfe des Baumstammes hochzuziehen. Kostbare Zeit geht verloren. Erst als ich stehe, ziehe ich erneut mein Schwert. Neugierde hat mich gepackt. Vielleicht ist es ja Thresh, der mich in einen Kampf locken will. Oder es ist Fuchsgesicht, die mich von unseren Vorräten weglocken will.

Nach drei Metern des Humpelns bleibe ich stehen. Unentschlossen schaue ich zu unseren Vorräten und meiner frisch erlegten Beute zurück. Soll ich es alleine lassen und damit riskieren, dass es jemand klaut? Oder soll ich bleiben? Meine Neugierde siegt schließlich. Cato ist ja schließlich noch in der Nähe. Und so schlüpfe ich durch das Unterholz.

Ich höre die beiden, schon lange bevor ich sie sehe. Sie streiten sich, weil er angeblich ein Signal nicht beantwortet hat. Ihre Stimme ist hoch und voller Panik, aber vor allem ist sie wütend. Mein Bein beginnt zu krampfen, mit Mühe gelingt es mir weiter zu schleichen. Ich höre wie Katniss nun mit Peeta darüber streitet, dass er etwas von den Vorräten genascht hat und er es vehement abstreitet. Um Katniss zu besänftigen bietet er ihr Beeren an, die er gerade gesammelt hat. Es wird eine Zeitlang ganz still.

Der Kanonenschuss fällt in dem Augenblick, indem ich über etwas stolpere, das vor mir auf dem Boden liegt. Panisch rudere ich mit den Armen, doch mit meinem betäubten, schwachen Bein gelingt es mir nicht, mein Gleichgewicht wieder zu finden. Ich falle über einen warmen Körper und schlage mit dem Kopf auf einen Stein auf. Der Schuss dröhnt noch immer in meinem funktionierenden Ohr wieder, als ich mich panisch von der Person herunter schiebe. Ich versetze der Person Tritte und Schläge, doch sie wehrt sich nicht.

Da liegt sie, ausgemergelt und bleich. Tot, für immer von uns gegangen. Um die aufkommenden Schluchzer zu unterdrücken, presse ich mir meine zitternde Hand auf den Mund. Mit leeren, verschleierten Augen schaut sie zum Himmel hinauf. Nie wieder wird sie ihn sehen können. Mein Herz rast. Das Blut rauscht durch meine Ohren. Tot. Tot. Tot. Sie liegt einfach nur da, auf den Rücken, umgefallen durch den Tod. Ihre Arme spreizen sich von ihrem Körper ab, das linke Bein ist eingeknickt und der Fuß liegt unter dem ausgestreckten rechten. Tot. Tot. Tot.

Einen Moment lang bin ich zu schockiert, um zu reagieren. Ich starre das tote Mädchen einfach nur an. Sie hockte nur einen knappen Meter vor mir im Unterholz. Was hat sie so schnell umgebracht? Wieso ist sie nicht vor Peeta und Katniss davongerannt? Wieso nicht vor mir?

Mir fallen die Beeren in ihrer Hand auf. Sie riechen genauso süßlich, wie die, die ich eben gesammelt habe. Mein Blick gleitet zu ihrem Gesicht. Der dunkle Saft der Beeren klebt noch an ihrem Mundwinkel. Wieder schaue ich zu den Beeren.

Ich reiße die Augen auf, sobald ich es begreife und sprinte los. So schnell ich kann, stolpere ich über den toten Körper von Jaqueline und jage durch den Wald. Immer wieder gibt mein Bein unter mir nach, knickt einfach ein. Ich muss zuerst da sein. Unachtsam schlage ich die Äste beiseite und beschleunige mein Tempo. Ich muss ihn erreichen, bevor es passiert.

In wilder Panik schreie ich seinen Namen, immer wieder. Wieso antwortet er nicht? Bin ich an ihm vorbeigelaufen? Habe ich ihn verfehlt? Ich darf nicht zu spät kommen. Ich darf ihn nicht verlieren.

„Cato!", schreie ich noch einmal, kräftiger. Keine Antwort. Antworte doch, Cato!

Ich erreiche ihn gerade noch rechtzeitig. Über den geöffneten Fallschirm gebeugt, inspiziert er gerade die Beeren.

„Nein!", rufe ich aufgewühlt. Ich erreiche Cato und schlage ihm die Beeren aus der Hand. „Nicht essen!" Ich sehe mich um, sehe ihn an, dann wieder die Beeren. Mein schwaches Bein gibt unter mir nach und ich gleite zu Boden.

„Was ist denn los? Du hast die doch eigenhändig gesammelt." Verwirrt greift er nach mir um meinen Sturz abzufangen und mich langsam zu Boden gleiten zu lassen. „Was ist denn los mit dir, Lian?"

„Sie ist tot! Sie muss die Beeren gegessen haben. Jetzt ist sie tot." Aufgewühlt ziehe ich Cato zu mir herunter um ihn zu umarmen. Er lebt noch. Ihn konnte ich retten. Wenigstens eine Person. Schluchzend drücke ich mein Gesicht in seine Halsbeuge.

„Was meinst du damit? Wer ist tot?", fragt Cato und streichelt mir beruhigend über den Kopf.

„Na wer wohl? Jaqueline! Sie hat sie gegessen und ist – ist –" Ich kriege die Worte nicht über die Lippen. Erneut schluchze ich auf, versuche, mich zu fassen. Sie war noch warm. Nur Sekunden früher und sie wäre noch am Leben gewesen.

„Beruhig dich, Lian", flüstert Cato und drückt mich noch fester. „Du bist völlig hysterisch."

Hysterisch. Ich kann förmlich Rex Lachen hören. Klein Göttchen 259 ist hysterisch. Der Gedanke an Rex reicht aus, um mich von Hundert auf null runterfahren zu lassen. Eine unsichtbare Hand legt sich auf meinen Kopf und klärt meine Gedanken. Sie legt sich auf meine Wangen und trocknet die Tränen. Dann legt sie sich auf mein rasendes Herz und beruhigt es. Mit geschlossenen Augen atme ich zitternd ein und aus. Langsam löse ich mich von Cato und trete einen Schritt zurück, wobei wir uns an den Unterarmen des jeweils anderen festhalten.

„Du wärst tot gewesen, bevor die Beeren deinen Magen erreicht hätten", sage ich in einem Tonfall, der den meiner Mutter ähnelt, wenn ich etwas Falsches gemacht habe. Ich hebe eine der Beeren an und schaue sie an. Jetzt, wo ich weiß, was das für Beeren sind, kann ich nicht begreifen, wie ich sie nicht von Anfang an hatte erkennen können. Meine Dummheit hat Cato fast umgebracht. Aber ich weiß, dass auch er sie kennt. Wir haben sie in unserem Distrikt gezeigt bekommen. Man hält nicht viel, von Überlebenstechniken, wie Beeren- und Kräuterkunde. Diese Beere aber lernt jedes Kind in der Schule kennen.

Hungerspiele - Überlebenskampf [Finish]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt