Teil 3 - Sieger

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51. Die Jagd beginnt

Cato ist nicht in der Lage, soweit auf emotionaler Ebene zu denken. Also glaubt er mir und beruhigt sich. Er wirft die Tabletten-Packung wieder zurück in meinen Rucksack und setzt sich dann vor den Campingkocher. „Du hast doch bestimmt auch so einen Hunger wie ich." Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, öffnet er schon die Terrine, in der sich der Lammeintopf befindet, den man uns gestern geschickt hat. Schweigend schaue ich ihm beim Kochen zu, während ich gedankenverloren meine Hände auf die Wunde presse, ohne irgendeinen Schmerz zu empfinden.

Zum Essen setzte ich mich neben Cato an den Campingkocher, der nur wenig Wärme abgibt, und verschlinge eine große Portion von dem Lammeintopf mit Reis. Nach den einfachen Gaben der Natur und meinen mittelmäßigen bis schlechten Kochkünsten kommt mir der Eintopf als das köstlichste Gericht aller Zeiten vor. Es schmeckt so köstlich, dass sogar ich für einen Abend – oder ist es erst Mittag? – die Diät über Bord werfe und mir eine zweite Portion genehmige. Mein Verhalten entlockt selbst Cato ein Lächeln und neckend stößt er mich mit der Schulter an.

Während ich esse und Cato dabei zuschaue, wie er seine zweite Portion des Lammeintopfs löffelt, komme ich nicht umher, mich zu fragen, ob es nicht möglich ist, dass er sich doch geändert hat. Im Distrikt war er kalt, erbarmungslos, arrogant und gefährlich. Der Sohn eines reichen Minenbesitzers. Er war gefangen in der Gehirnwäsche, der man uns unterzieht, sobald wir geboren werden. Immer wenn ich ihm beim Training beobachtete, sah ich die Freude in seinem Gesicht, wenn er Knochen brach oder Wunden schlug, auch wenn sie meistens nur an Dummys verübt wurden. Wenn er andere Leute erniedrigte, dann zeigte er ein ehrliches, grausames Lachen. Und wenn er sich die Spiele auf der Leinwand anschaute, dann war er hin und weg, prägte sich neue Techniken ein und übte sie so lange und so verbissen, bis er sie im Schlaf beherrschte.

Aber nun könnte man annehmen, dass der Eisblock von Jungen aufgetaut ist. Er hatte es nie leicht in der Kindheit. Seine Mutter verließ ihn, da war er gerade erst geboren. Er wurde von einer Ersatzmutter aufgezogen, während sein Vater nichts anderes im Sinn hatte, als seine Minen im Gang zu halten. Und wenn er doch einmal Zeit für seinen Sohn hatte, dann hat er ihn gedrillt immer der Beste, immer der Brutalste zu sein, zwang ihn die Spiele anzuschauen und ihm einzureden, dass es gut sei, was er da sehe. Er ist genauso ein Opfer wie Katniss oder ich. Wie Kalia oder Annie. Es ist einfach, in jemanden nur das Monster zu sehen, wenn es das einzige ist, was man von der Person sieht. Aber bedeutet einfach auch immer richtig?

Bevor ich mich erneut schlafen lege, schlucke ich eine weitere Tablette, die sich in meinem Mund in Schaum verwandelt. Was auch immer das für Tabletten sind, sie lassen mich so lange durchhalten, bis ich die Spiele gewinne. Cato hat sich wieder neben mich in den Schlafsack gelegt. Er schläft schon, sein Atem ist regelmäßig. Wenn er schläft sieht er unschuldig aus. Doch unter der Oberfläche hat die Gehirnwäsche des Kapitols tiefe Wurzeln verankert.

„Du sollst schlafen und mich nicht angucken", bemerkt Cato ohne die Augen zu öffnen. Dafür schließe ich meine, missbrauche Catos Arm wieder einmal als mein Kopfkissen und seine Körperwärme als meine Heizung. Ich lausche seinem regelmäßigen Atem und dem Gewitter draußen. Schon bald schlafe ich ein.

Der Geruch von Brot mit Honig weckt mich. Cato sitzt unter mir im Schlafsack. Als ich mich aufrichte und auf seinem Schoß Platz gefunden habe, reicht er mir eine Scheibe Brot mit Ziegenkäse und Honig. Schweigend esse ich sie und jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach, während wir uns einfach im Arm halten. Den ganzen Tag tun wir nichts anderes, als zu schweigen und hier und da an einer Scheibe Brot zu knabbern. Es macht mir nichts aus, dass wir uns heute nichts zu sagen haben. Wir haben die letzten Tage genug geredet. Heute will jeder mit seinen Gedanken alleine sein. Als wir uns abends wieder schlafen legen, drückt er mir einen Kuss auf die Stirn und nimmt mich beschützend in den Arm.

Hungerspiele - Überlebenskampf [Finish]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt