Teil 1 - Tribute

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8. Tribut

   Mein Kopf ist schlagartig leer. Die Menge um mich herum bewegt sich in Zeitlupe und ihr Geschrei ist abgedämpft. Etwas zieht sich in mir zusammen; die kurz aufgeflackerte Angst. Nun löst sie sich mit einem lauten Puff und macht der Freude Platz. Das Glück durchspült mich von den Haar- bis in die Zehnspitzen, reißt mich mit. Der imaginäre Druck ist von meinen Schultern verschwunden und die Euphorie der Bevölkerung reiß mich mit.

   Die Welt um mich herum bekommt ihre Normalität wieder. Die Jugendlichen und Eltern hüpfen, stampfen, klatschen oder schreien Clove zu. Und ich mache mit. Wie ein kleines Kind gratuliere ich ihr, dass sie gezogen wurde, obwohl ich sie nicht ausstehen kann und vor allem die Spiele nicht. Aber die Euphorie ist so ansteckend und das Glück, das mich durchspült, so ansteckend, dass ich meine Moral vergesse.

   Ich drehe mich um, suche in der Menge der Erwachsenen nach Suzanne. Nach einigen Minuten finde ich sie auch. Sie beklatscht Clove höflich, doch ihr Blick ruht auf mir. Als unsere Blicke sich treffen nickt sie einmal knapp. Sie hat schon verstanden was ich ihr sagen will, bevor ich mich überhaupt zu ihr umgedreht habe.

   Einer von uns beiden wird nicht mehr lange hier sein. Die ganze Zeit hatte sie so eine Ahnung. Sie muss meine Entscheidung an meiner Körpersprache abgelesen haben, denn nur so kann ich mir erklären, dass sie weiß, dass ich freiwillig in die Arena gehen werde. Ich wollte Suzanne von meinem Versprechen gegenüber Nicholas erzählen, doch ich habe es nichts übers Herz gebracht. Es hätte mir das Herz zerrissen, ebenso wie ihr.

   Clove zieht nun meine Aufmerksamkeit auf sich. Die fünfzehnjährige Clove. Ihre buschigen braunen Haare sind zu einem Zopf nach hinten geflochten. Ihr kleiner, aber kraftvoller Körper steckt in einem ausgewaschenen hellgrünen Kleid. Die braunen Sandalen lassen sie nicht groß oder graziös wirken, sondern wie eine Kriegerin. Ihre Spezialität sind Messer. Ihre Technik ist atemberaubend. Beim Training sieht sie aus wie ein Panterweibchen, gefährlich und geschmeidig.

   Nun wirkt sie bösartig und erregt. Ihre Wangen haben einen zarten rosa Hauch und ihre Augen strahlen, als wollen sie sagen „Ich werde das gewinnen!“ Breit grinsend und mit Stolz erhobenem Kinn schreitet sie an allen vorbei, ihre Schritte sind kurz, kräftig und gefährlich. Sie zeigt, wie verbissen sie hierauf trainiert hat, dass sie bereit zum Töten ist. Dieses kleine Detail lässt meine Glückseuphorie zerplatzen und reißt mich zurück in die Gegenwart.

   Sie wird die Hungerspiele zu dem machen, was sie sind: zu blutigen, modernen Gladiatorenkämpfen. Sie wird nicht auf die kleinste Weise rebellieren. Sie wird zu einer Marionette des Kapitols, die ihr Leben lässt. Sie wird ihnen das liefern was sie wollen, in der Annahme das richtige zu tun. Wenn sie nicht rebelliert, wer wird es dann tun? Wer wird den anderen Tributen zeigen, dass es einfach ist, dem Kapitol die Stirn zu bieten. Clove Chavéz wird es sicherlich nicht tun. Sie wird mehr Blut vergießen, als nötig.

   Clove hat die Bühne erreicht, erklimmt die wenigen Stufen und stellt sich neben Jade Pietoso, die ihr freudestrahlend einen Arm um die Schulter legt. „Schön, schön. Möge das Glück immer zu deinen Gunsten sein, liebe Clove“, flötet Jade übertrieben fröhlich und ihre grüne Lockenpracht wippt auf und ab. „Dann machen wir uns daran, deinen männlichen Mittribut zu ziehen“, kichert sie, als gibt es nichts Schöneres auf der Welt, Kinder für ihren Tod zu ziehen.

   Ihre Schuhe klackern, als sie Clove in der Mitte stehen lässt und nach links zu der Jungenurne geht. Wieder zögert sie die Zeit hinaus, um Spannung aufzubauen. Dann schnappt sie sich mit spitzen Fingern einen der vielen Zettel und zieht ihre Hand wieder aus der Urne. Extra langsam schleicht sie wieder zu ihren Platz neben Clove. „Es wäre doch wesentlich interessanter, wenn unsere Clove hier den Glücklichen verkündet“, beschließt Jade dann mit einem dicken Strahlen im Gesicht. Klar, lass den Mittribut verkünden, dass dein Leben vorbei ist, denke ich bissig und meine Zähne knirschen, so fest presse ich die Kiefer aufeinander.

Hungerspiele - Überlebenskampf [Finish]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt