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Am nächsten Tag war ich tatsächlich wieder Anna, was mich unfassbar erleichterte. Noch bevor ich aus dem Bett stieg, schickte ich eine Nachricht an Zach, dass ich heute nach der Arbeit Zeit hatte. Keine Minute später meinte er, dass er mich abholen würde.

Ich lächelte und Beth fand es zum Kotzen.

„Eins sag ich dir: Wenn er uns wieder an die Wäsche will, dann sag ich: Ich hab's dir ja gesagt!"

Ich zog meine Sportschuhe an, joggte ein bisschen in der Gegend herum und machte mich dann wieder auf den Heimweg, um mich für die Arbeit fertig zu machen.

„Hast du Jed gesagt, dass er mit seinen Freunden weg darf?", fragte Owen, als ich gerade wieder zur Türe hereinkam. Jedrek saß schmollend in der Küche, vermutlich weil Owen gerade eine zwanzigminütigen Standpauke gehalten hatte.

„Ja, hat sie!", rief mein kleiner Bruder, als wäre er Angeklagter im Gerichtssaal und ich Mittäterin.

„Herzlichen Dank auch", knurrte ich, aber Beth gab darauf nichts. Owen sah mich abwartend an. Natürlich hätte ich an dieser Stelle lügen und behaupten können, dass ich Jed sehr wohl verboten hatte, das Haus zu verlassen, solange es nicht in Brand stand. Owen hätte mir auch eher geglaubt als Jed. Aber mein kleiner Bruder steckte so oder so schon in der Scheiße, also konnte ich genauso gut ehrlich sein.

„Owen, es tut mir leid, ich hab vergessen, dass er Hausarrest hat."

Er kam zu mir und zog mich am Arm zur Seite. „Wie soll das funktionieren, wenn du so inkonsequent mit ihm bist?!", zischte er sauer.

„Ich bin nicht inkonsequent, ich hab's vergessen."

„Sowas darfst du nicht vergessen."

„Ich bin nicht seine Mutter!", entfuhr es mir, lauter als beabsichtigt. „Und du bist nicht sein Vater." Ich entzog Owen meinen Arm, drängte mich an ihm vorbei und lief nach oben. Keine zwei Minuten stand ich unter der Dusche und schon überrollte mich das schlechte Gewissen. Ich hätte das nicht zu Owen sagen sollen. Normalerweise war ich auch nicht auf Streit aus. Aber ich hasste es, dass ich wieder Mal für etwas verantwortlich gemacht wurde, das Beth getan hatte.

Wie damals, als sie Brielles Schokopudding aufgegessen hatte.

Wie damals, als sie sauer auf Owen gewesen war und seinen fünfseitigen Geschichtsaufsatz das Klo runter gespült hatte.

Wie damals, als sie Jed absichtlich nicht von seinem Eishockeytraining abgeholt hatte, weil sie zu faul gewesen und vor dem Fernseher eingeschlafen war. Er hatte im Regen nach Hause laufen müssen.

Heute war wieder ein verdammt warmer Tag. Die Haare klebten mir im Nacken, obwohl ich sie hochgebunden hatte. Das Café war gut besucht, und ich war den ganzen Tag auf den Beinen.

„Wo warst du gestern?", zischte Belinda wütend, als sie gegen elf ihre Schicht begann. „Du hättest mir ruhig sagen können, dass du nicht kommst, du hattest Glück, dass ich zufällig früher hier war. Deinetwegen musste ich unsere Chefin belügen und ihr sagen, dass du Brechdurchfall hast." Ich verzog das Gesicht. Bei Brechdurchfall wäre ich heute bestimmt nicht wieder hier gewesen. Hätte sie nicht die Migräne wählen können?

„Es tut mir leid." Ich schob den Kaffeebecher über die Theke und nahm das Geld der Kundin entgegen. „Mir ist was ganz Blödes dazwischen gekommen."

„Und was, wenn ich fragen darf?"

Meine zweite Hälfte ist aufgewacht und hatte keine Lust aufs Arbeiten.

„Familienprobleme", murmelte ich. Belinda funkelte mich wütend an.

„Wegen Familienproblemen lüg ich bestimmt nicht mehr rum, verlass dich drauf. Das war das letzte Mal, dass ich dich aus der Scheiße ziehe. Wenn du noch einmal nicht hier erscheinst, ohne mir oder unserer Chefin Bescheid zu geben, decke ich dich nicht mehr!"

AnnabethWo Geschichten leben. Entdecke jetzt