17

371 50 11
                                    

Ivory.

So heißt das Mädchen, mit dem ich mit fünfzehn Kontakt aufgenommen habe. Zumindest nenne ich sie für dieses Buch so. Aus unterschiedlichen Gründen, werde ich weder ihr Aussehen näher beschreiben, nicht ihren Wohnort nennen und auch nicht ihren richtigen Namen erwähnen.

Aber sie leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung. Sie war eine der ersten, mit der ich damals Kontakt aufgenommen habe, sobald ich über DIS Bescheid wusste und fürchtete, diese Störung ebenfalls entwickelt zu haben. Gleich nachdem ich Schizophrenie abgehakt hatte, davon war ich nämlich anfangs (wie alle Ärzte) ausgegangen.

Sich mit vierundzwanzig anderen Persönlichkeiten einen Körper zu teilen, so wie Ivory, hatte ich mir immer mehr als anstrengend vorgestellt, aber sie hatte es mit einem großen Bus verglichen und gemeint, dass man sich mit der Zeit und einer guten Therapie mit den anderen Identitäten arrangieren kann.

Das Fahrzeug ist der Körper. Meist ist Ivory die Fahrerin und merkt, was in der inneren Welt, also dem Businneren, und der äußeren Welt, dem Straßenverkehr, passiert. Wenn sie alleine in dem Bus sitzt und fährt, dann sind die anderen Persönlichkeiten gerade nicht im Bewusstsein. Wenn sie allerdings nicht alleine ist, gibt es einige Plätze im Bus, die die anderen Identitäten belegen können.

Die Person, die auf dem Beifahrersitz, der in ihrer Version eines Busses immer existiert hat, sitzt, bekommt auch noch mit was passiert und kann vielleicht hin und wieder das Steuer umreißen. Ein bisschen mitbestimmen, was passiert.

Diejenigen, die im Bus verteilt sitzen, bekommen immer weniger von der äußeren Welt mit und haben immer weniger Einfluss auf das Geschehen, je weiter sie in den hinteren Teil des Fahrzeugs rücken. Und dann gibt es noch die Personen im Kofferraum. Die bekommen gar nichts von der äußeren Welt mit und sind in der inneren Welt, sofern das System eine hat.

So entstehen Gedächtnislücken und unterschiedliche Erinnerungen und Erlebnisse bei den verschiedenen Identitäten. DIS ist ein Schutzmechanismus. Es ist nur natürlich, dass nicht alle Identitäten traumatische Erlebnisse durchmachen, sondern sich in vielen Fällen abschotten und nur eine Person im Bewusstsein ist.

Der „Gastgeber" (so hat Ivory sich selbst genannt) kann bei einem Identitätswechsel allerdings auch in eine Art schwarzes Loch fallen und nicht in der inneren Welt landen. Als wäre man Ohnmächtig.

Und genau daran habe ich mich erinnert, als Owen gemeint hat, ich sei nicht mehr ich selbst gewesen.

Der schreckliche Verdacht, der sich in mir breit gemacht hat, hat mich Ivory an diesem Abend nach meinen Heulkrämpfen kontaktieren lassen.

-

„Hi! Wie geht's dir? Wir haben so lange nichts mehr voneinander gehört!", rief das Mädchen aufgeregt und ich wusste, dass es nicht Ivory war. Ivory war der nachdenkliche, stille Typ. Außerdem hatte die Stimme am Telefon einen britischen Akzent, und so viel kann ich verraten: Sie war keine Britin und hatte auch nicht so eine tiefe und raue Stimmlage.

„Hi", sagte ich zögerlich. „Und du bist?"

„Ed!"

„Hey, Ed."

„Ivory hat mir gesagt, dass wir eine Nachricht von dir erhalten haben und dich jetzt anrufen. Eigentlich wollte sie das machen, aber ich war grad in der Nähe und wollte sicherstellen, dass alles okay ist. Ist ja irgendwie mein Job. Naja, egal, kann ich dir helfen?" Etwas knusperte am anderen Ende der Leitung und ich nahm an, dass Ed Chips oder Ähnliches futterte.

Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich hatte mit Ivory reden wollen. Nicht mit einer ihrer vierundzwanzig anderen Persönlichkeiten. Aber wenigstens war es nicht einer ihrer Trauma-Träger. Er war der Beschützer des Systems und hatte gleich nach ihr am häufigsten die Kontrolle über den Körper. Er konnte am leichtesten nach vorne ins Bewusstsein dringen, wenn etwas nicht in Ordnung war. Er wusste über alles Bescheid, das im System passierte und war für das Wohlergehen aller Bewohner des Körpers verantwortlich.

AnnabethWo Geschichten leben. Entdecke jetzt