In den darauffolgenden Wochen und Monaten ist tatsächlich nichts allzu Außergewöhnliches passiert. Damit meine ich im Wesentlichen, dass ich nicht ausgerastet bin und mich selbst verletzt habe und auch nicht für mehrere Tage verschwunden bin.
Ab und zu hatte ich Gedächtnislücken, aber dabei handelte es sich nur um Minuten, manchmal auch Stunden und meine Geschwister und Zach haben in diesen Zeitspannen nie etwas über meinen Zustand sagen können, weil es weitestgehend passiert ist, wenn ich alleine gewesen bin. Das Einzige, das immer gleich war, waren die Kopfschmerzen, die mir diese Zustände bescherten. Sie waren mal ganz leicht, mal so schlimm, dass ich Tabletten nehmen und mich im dunklen Zimmer hinlegen musste.
Einmal war ich in der Stadt mit Zach Klamotten shoppen. Er ist in der Herrenabteilung und ich in der Damenabteilung gewesen, als ich wieder dieses Wattekopfgefühl bekommen habe. Das Nächste, das ich weiß, ist, dass ich selbst in der Männerabteilung stand und einige, weite Pullover in der Hand hielt. Ich habe die Sachen gekauft, denn laut Ivory, die ich nochmal kontaktiert und diesmal auch tatsächlich erreicht habe, sollte ich meine andere Identität nicht vernachlässigen und ihr entgegenkommen. Vielleicht war es ein Kerl, der sich in meinem Körper nicht wohl fühlte, also sollte ich es ihm erleichtern, hat sie gemeint.
Es sind aber auch andere komische Sachen passiert. Immer öfter habe ich Gegenstände in meinem Zimmer gefunden, die nicht mir gehört haben. Sie waren Großteils von Owen oder Jed, ein paar auch von Zach und ich fragte mich, wie sie dahin gekommen sind und ob ich sie unbewusst bei mir einquartiert habe.
Den Vorschlag mit dem Zettelschreiben, den ich von Ed hatte, habe ich auch ausprobiert. Überall in meinem und Zachs Zimmer habe ich grellgelbe Notizen liegen lassen, die meine dritte (oder vierte, oder fünfte) Identität angesprochen haben, für den Fall, dass sie mich wieder mal von Server kicken würde. Sogar auf meinem Handysperrbildschirm habe ich freundlich darauf aufmerksam gemacht, auf die Notizen zu antworten.
Nur ist nie etwas passiert, und das hat mich langsam aber sicher gefrustet.
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„Vielleicht ist es doch nicht DIS", sagte ich an einem Abend mutlos in mein Handy, nachdem ich wieder mal Gedächtnislücken von knappen zwei Stunden hatte, aber die Notizen nicht beachtet worden waren. „Vielleicht bin ich einfach nur gestört. Sowas soll es doch geben, oder? Gestörte Menschen."
„Du bist nicht gestört", erwiderte Zach.
„Dissoziative Identitätsstörung. Selbst wenn ich an einer DIS leide, bin ich gestört, also behaupte nicht das Gegenteil." Ich rollte mich auf den Bauch und zupfte an den Fransen des pinken Kuschelkissens herum, das Zach mir geschenkt hatte, damit ich was zum Kuscheln hatte, wenn er nicht da war. So wie jetzt. „Erinnerst du dich noch an die Zeiten, in denen Menschen einfach nur gestört waren? Bevor es für alles eine Analyse und eine Erklärung gegeben hat?"
Zach lachte leise. Ich konnte mir ganz genau vorstellen, wie er gerade hinter seinem Schreibtisch saß. Die Krawatte gelockert, das Sakko über den Stuhl gehängt, das Telefon in der linken Hand und mit der rechte spielte er mit einem Kugelschreiber, mit dem er eigentlich die Papiere, die vor ihm lagen, hätte bearbeiten sollen. Die Schreibtischlampe war bestimmt seine einzige Lichtquelle, denn es war schon dunkel draußen und seine Sekretärin hatte sich schon nach Hause verabschiedet. Und obwohl er einen Haufen Arbeit zu erledigen hatte, hing er trotzdem am Telefon und hörte sich geduldig mein Gejammer an.
„Ja, diese Zeit nennt man auch Mittelalter. Da wärst du schon als vom Satan besessen bezeichnet und verbrannt worden."
„Vielleicht bin ich ja vom Satan besessen."
„Nein, das ist nur Beth."
Ich lachte, als Beth rachsüchtig ein paar seiner Mängel auflistete. „Ich befürchte, das sieht sie anders", informierte ich ihn.
„Ja, allerdings!", pflichtete sie mir bei. „Wetten, er kann noch nicht mal die Geschirrspülmaschine andrehen? Oder seine Wäsche waschen, ohne dass sie drei Nummer zu klein wieder rauskommt?"
„Beschwert sie sich über mich?", lachte Zach, nachdem ich ein paar Sekunden nichts gesagt hatte.
„Lass es mich so zusammenfassen: Geboren, um reich zu sein."
Zach lachte wieder. „Stimmt gar nicht! Ich kann tolle Schaumbäder machen."
„Und Suppe salzen", fügte ich hinzu.
„Und Suppe salzen", äffte Beth mich nach. „Wenn das die Qualitäten sind, die ein Kerl mit sich bringen muss, um dich zu beeindrucken, dann Masseltoff."
„Klappe."
„Was?", fragte Zach irritiert.
„Nicht du, entschuldige." Seit Zach wusste, dass es Beth gab, rutschten mir oft mal einzelne Worte raus, die an Beth gerichtet waren. Das passierte mir auch in Gegenwart meiner Geschwister immer häufiger, was ihren Verdacht bestätigte, dass ich langsam durchdrehte.
„Wann kommst du nach Hause?", fragte ich und klang dabei wie ein kleines, quengelndes Kind, aber in den letzten Tagen hatte er nicht sonderlich viel Zeit für mich gehabt und seit ich im Biscotti&Cie gekündigt wurde (mein Dank geht an Beth raus), hatte ich den ganzen Tag nichts zu tun, außer auf Arbeitsbestätigungen oder Absagen zu warten. Zach stieß den Atem aus und ich hörte Papiere rascheln.
„Ich fürchte, ich muss dich auf morgen vertrösten..."
„Nein!" Okay, jetzt klang ich wie ein Kind. Und zwar wie ein Bockiges. „Warum kannst du das Zeug nicht einfach hier her bringen?"
Er lachte leise. „Weil ich mich nicht konzentrieren kann, wenn du neben mir bist."
„Ich bin überrascht, dass er auf seiner eigenen Schleimspur noch nicht ausgerutscht ist", murrte Beth und brachte mich zum Lachen. In letzter Zeit brachte sie mich häufig zum Lachen. Ich hatte das Gefühl, dass wir plötzlich viel besser miteinander auskamen. Bis auf die Sache mit der Kündigung. Wir waren fast schon wieder... Freundinnen.
„Ich hoffe übrigens, dass du in den nächsten Wochen nichts vorhast", bemerkte Zach dann plötzlich, womit er mich ziemlich aus der Bahn warf. Bald war Weihnachten, aber wirklich vor hatte ich nichts.
„Nein, warum?"
„Ach, nur so", meinte er in beiläufigen Ton, aber ich wusste, dass er etwas vor mir verheimlichte. Das wäre wohl jedem aufgefallen.
„Was ist?", lächelte ich. „Sag schon."
„Ich sag nur so viel: Du solltest deinen Koffer packen."
Jetzt war ich verwirrt. „Fahren wir weg?"
„Nein, wir fliegen weg", entgegnete er.
„Wohin? Wie lang?" Aufgeregt setzte ich mich auf.
„Das wohin verrate ich nicht und das wie lange weiß ich noch nicht."
„Wow, ich glaube, er sollte seinen Beruf überdenken und bei der Auskunft arbeiten", murrte Beth. „Woher sollen wir wissen, was wir mitnehmen sollen, wenn er uns nicht verrät, wo es hingeht?"
„Und warum?", fragte ich Zach, aber er antwortete nicht. In mir machte sich ein Verdacht breit. „Zach?"
„Wir werden herausfinden, ob du an einer dissoziativen Identitätsstörung leidest."
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Annabeth
Mystery / Thriller„Wenn ich abends einschlafe, dann weiß ich nicht, ob in meinem Körper Anna oder Beth aufwachen wird." -- -- Wann Beth sich in Annas Kopf eingenistet hat, weiß Anna nicht mehr. Sie weiß nur, dass Beth eine Menge schlechter Entscheidungen trifft, die...