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Ich sprang auf und schaltete alle Lichter in der Suite an, als wäre hier ein Einbrecher. Dann lief ich zu dem kleinen Schreibtisch, an dem Zach an diesem Abend noch gearbeitet hatte, bevor er sich zu mir ins Bett gelegt hatte. Oben auf dem Stapel Papiere lag ein kleiner Klebezettel auf, auf den ich vor Wochen geschrieben hatte:

Liebe Identität,

bitte verrate mir wer du bist, und schlag meinen Kopf nicht mehr gegen den Kühlschrank.

Danke!

Schon klar, die Botschaft war ein bisschen sarkastisch angehaucht, aber zu der Zeit hatte ich mich nicht sonderlich ernst gefühlt, sondern eher lächerlich. Aber jetzt stand etwas darunter, in einer Schrift, die definitiv nicht meine war. Es war die Schrift eines Volkschülers -ohne Zweifel. Die Tinte war ein wenig verschmiert.

Ich heiße Jamie. Ich will nicht nach Hause. Geh nicht mehr nach Hause.

Eindeutig ein Hauptschüler, denn er hatte einige Rechtschreibfehler in diese wenigen Worte geschmissen, die ich Euch nicht antun will.

„Hey, das könnten glatt wir vor zehn Jahren sein", bemerkte Beth. Ich zeigte Zach die Notiz.

„Jamie ist ein Trauma-Träger...", murmelte ich. Und wegen der Schrift und der knappen Sätze, vermutete ich ein Kind. Wunderbar. „Vielleicht ist er deshalb weggelaufen", meinte Beth. „Er will nicht nach Hause. Also ist er weggelaufen."

„Aber zu Hause ist doch gar nichts mehr. Unser Vater ist tot."

„Vielleicht weiß er das nicht."

„Beth, ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich in meiner Kindheit jemals Gedächtnislücken gehabt hätte."

„Du kannst dich doch noch nicht mal dran erinnern, was du gestern gegessen hast", erwiderte sie und ich erzählte Zach, was unsere Vermutung war.

„Denkst du, wir sollten das morgen den Ärzten sagen?", fragte ich ihn. Er legte den Zettel zurück auf den Schreibtisch und riss einen anderen Klebezettel vom Pack runter.

„Das musst du entscheiden." Er hielt mir einen Stift hin. „Frag ihn was, falls er wieder kommt."

Erst hatte ich keine Ahnung, was ich Jamie schon hätte fragen können, aber dann fielen mir mit einem Schlag eine Menge Fragen ein.

Wie alt bist du?

Weißt du, wer ich bin? Ich heiße Anna.

Kennst du Beth?

Was weißt du aus deiner Kindheit?

Ich beschloss auch nach Dingen zu fragen, die er mochte, vielleicht konnte ich ihn so mit Schlüsselreizen hervorbringen, zumindest hatte Ivory es oft so gemacht.

Hast du ein Lieblingsessen?

Oder ein Lieblingsgetränk? Was magst du?

Damit war der kleine, grellpinke Zettel dann auch schon fast voll.

Ich klebte ihn sichtbar an die Wand, für den Fall, dass Jamie bald wieder auftauchen würde.

„Ich werde es den Ärzten sagen, wenn Jamie wieder geantwortet hat", beschloss ich, als wir uns wieder ins Bett legten.

-

Habt ihr Träume, die immer und immer wieder kommen? Alpträume, die euch nicht loslassen? Dinge, von denen ihr am liebsten nie geträumt hättet?

Ich habe schon immer sehr lebhaft und intensiv geträumt. In meinen Träumen habe ich manchmal schlimmere Angstgefühle erlebt, als im echten Leben, was ziemlich unheimlich ist, wenn ich daran zurückdenke. Ich bin nicht einmal sicher, was für Träume diese schlimmen, unbeschreiblichen Gefühle ausgelöst haben. Ich weiß nur, dass ich wegsehen wollte und nicht konnte. Dass ich aufwachen wollte und es nicht geklappt hat. Dass ich mich nie wieder so schlimm fühlen wollte.

AnnabethWo Geschichten leben. Entdecke jetzt