Ich glaube, viele von Euch sind sehr naiv. Ich glaube, Ihr unterschätzt, was manche Kinder durchmachen müssen. Ihr unterschätzt, was für Monster in den Menschen leben, die Kindern so etwas antun. Und Ihr unterschätzt die Auswirkungen, die solche Qualen in einem Kind anrichten können. Wenn ein Kind an den Punkt gebracht wird, an dem es glaubt, den Schmerzen nicht mehr standhalten zu können und zu sterben, kann es sein, dass es den Körper verlässt, geistig an einen anderen Ort geht und eine andere Persönlichkeit die Schmerzen ertragen lässt.
Die Trauma-Träger.
So hat Ivory sie immer genannt. Und wie gerne hätte ich diese Situation einem Trauma-Träger überlassen, anstatt handlungsunfähig in meinem eigenen Körper festzustecken und Zach dabei zuzusehen, wie er wieder in seinen Wagen stieg und aus meinem Leben fuhr.
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„Es tut mir wirklich leid!"
„Halt den Mund." Müde schüttelte ich den Kopf. Ich konnte mir ihre Entschuldigungen nicht mehr anhören. Seit einer Woche waren sie das Einzige, das ich zu hören bekam. Aber kein Lebenszeichen von Zach.
Angefleht hatte ich Beth. Angefleht, etwas zu unternehmen, als Zach mich hatte stehen lassen. Ihretwegen! Und sie hatte nichts getan. Sie war wie versteinert dagestanden und hatte seinem Auto hinterhergesehen.
Natürlich hatte auch Sebastian recht schnell kapiert, was los war und hatte endlich das Weite gesucht. Hoffentlich für immer. Denn jetzt hasste ich ihn endgültig, auch, wenn er absolut nichts für das ganze Chaos konnte. Vermutlich hätte er mir leidtun sollen. Ein bisschen tat er das. Er hatte etwas Besseres verdient als Beth. Er sollte sich eine Frau suchen, die ihn zu schätzen wusste.
Ich war ein paar Mal bei Zach zu Hause aufgekreuzt. Genauer gesagt: Vor dem riesigen, schwarzen Zaun, über den ich vielleicht wirklich drüber geklettert wäre, wenn nicht jedes Mal ein Angestellter rechtzeitig aus dem Haus gekommen wäre und gemeint hätte, dass Zach nicht zu Hause war. Dass das jedoch gelogen war, konnte ich mir durchaus denken. Ich verstand, dass Zach mich nicht sehen wollte, aber ich musste doch... irgendetwas tun!
Plötzlich tauchte eine Packung Vanilleeis in meinem Blickfeld auf. Ich blinzelte Brielle an, und sie schenkte mir ein mitleidiges Lächeln.
„Das hat mir geholfen, als George Schluss gemacht hat."
Seufzend nahm ich den Eisbecher entgegen und begann das Zeug in mich hineinzuschaufeln, als könnte ich damit den Schmerz in meiner Brust zum Gefrieren bringen. Sie ließ sich neben mir auf der Couch nieder und ich ließ zu, dass sie die fürsorgliche große Schwester spielte.
„Willst du mir erzählen, was passiert ist?" Ich schüttelte den Kopf.
„Ich will nur mit Zach reden, aber er lässt es nicht zu. Er hebt nicht ab und lässt mich auch nicht in sein Haus."
„Hm...", machte Brielle nachdenklich und schien in ihren Hosentaschen nach etwas zu suchen. Irritiert sah ich ihr dabei zu. Schließlich zog sie einen kleinen, weißen Zettel hervor. „Da ist es ja...", murmelte sie und faltete ihn auseinander. Er war nicht größer als ein Post-it.
„Was ist das?"
„Heute Morgen hat eine gewisse Ms. Crossfield angerufen, um sich bestätigen zu lassen, dass eine Ms. Mill von sechzehn bis siebzehn Uhr einen Kundenberatungstermin bei Mr. Zachary Parsons hat." Mir blieb der Eisklumpen im Hals stecken.
Brielle sah mich ausdruckslos an, aber in ihren Augen spiegelten sich Aufregung und auch etwas Stolz, als sie mir den Zettel in die Hand drückte. „Gern geschehen, Ms. Mill."
Sie stand auf und verschwand die Treppen nach oben, bevor ich reagieren konnte. Ungläubig starrte ich auf den Zettel und dann auf die Küchenuhr.
In einer Stunde!
„Ach, verdammt", murmelte Beth genervt, weil sie wusste, dass mein Drama doch noch nicht sein Ende gefunden hatte.
Ich strampelte mir die Decke von den Beinen und lief auf mein Zimmer, um die Adresse zu googlen.
Während ich mich umzog, übermannte mich ein seltsames Gefühl. Brielle und ich hatten kein inniges Verhältnis zueinander, und trotzdem hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie sie mir würde helfen können und hatte mir einen Termin geben lassen, damit ich mit Zach reden konnte.
Damit er mit mir reden musste.
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Ich kann nicht genug betonen, dass ich meine Geschwister keines Falls hasste, oder nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Aber wie Ihr seht, ist es Beth nicht sonderlich schwer gefallen, meine Beziehung mit Zach innerhalb einer Sekunde zu Staub und Asche zerfallen zu lassen. Ich habe über ihr Handeln keinerlei Kontrolle. Und kein Mensch würde mir glauben, dass es da eine andere Person in meinem Kopf gibt, die ab und an die Kontrolle über meinen Körper übernimmt. Deshalb habe ich nie versucht, ein Geschwisterband zu meinen Brüdern oder meiner Schwester einzugehen. Stattdessen habe ich die Fäden, die sich in meiner Kindheit zwischen mir und meinen Geschwistern gespannt haben, durchgerissen.
Darum wundert es mich bis heute, dass Brielle mir damals geholfen hat. Sie hat es gut gemeint, aber...
Ich wünschte, sie hätte es nicht getan.

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Annabeth
Mystery / Thriller„Wenn ich abends einschlafe, dann weiß ich nicht, ob in meinem Körper Anna oder Beth aufwachen wird." -- -- Wann Beth sich in Annas Kopf eingenistet hat, weiß Anna nicht mehr. Sie weiß nur, dass Beth eine Menge schlechter Entscheidungen trifft, die...