Am 2. Februar begann der Anfang vom Ende. Buchstäblich.
Ich saß in unserem Wohnzimmer auf der Couch. Es war Nachmittag. Jed war in der Schule, Owen besuchte seine Freundin und ich suchte im Internat nach Job-Angeboten, weil Brielles Arbeitgeber keine weiteren Angestellten einstellen wollte.
„Du könntest mir auch helfen", bemerkte meine Schwester irgendwann, die dabei war, den Christbaumschmuck abzunehmen.
„Ich bin auf Geldsuche", erwiderte ich und scrollte weiter.
„Dein Freund ist Millionär, du brauchst keinen Job."
Ich sah auf. „Siehst du? Genau wegen solchen Aussagen will ich einen Job."
Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Was? Das ergibt keinen Sinn."
„Für dich nicht", murmelte ich. Ich liebte Zach zwar über alles und war mir sicher, dass er mich liebte, aber wer wusste schon, was die Zukunft brachte? Ich wollte so schnell wie möglich eigenständig werden und ein halbwegs gesichertes Einkommen haben. Ich wollte nicht von ihm abhängig sein. Immerhin war es ein Unterschied, ob Zach mir Dinge kaufte, weil er mir zeigen wollte, dass ich ihm wichtig war und er mir eine Freude machen konnte, oder weil er es tat, weil ich diese Dinge brauchte und sie mir nicht selber leisten konnte.
„Du kannst mir trotzdem helfen. Die Jobangebote laufen dir nicht weg. Aber unser Baum wirft langsam sein Winterfell ab."
„Dann warte bis Jed nach Hause kommt. Er kann ruhig auch mal etwas machen."
„Sicher, dass du heute Anna bist?", hakte sie nach und ich warf ihr einen genervten Blick zu, aber Beth lachte nur. Ich verdrehte die Augen. Diesen unlustigen Witz brachten meine Geschwister häufiger, seit sie von Beth wussten.
Brielle gab es jedoch auf, mich dazu überreden zu wollen ihr zu helfen und räumte die Kugeln in die Kartons zurück, wickelte die Lichterketten vom Baum, sammelte das Lametta ein und verstaute die Christbaumspitze in einer Extraschachtel, weil sie so empfindlich war.
„Kannst du die Kartons nach unten bringen?", fragte sie, als sie fertig abgeräumt hatte. „Ich will da nicht schon wieder runter. Es stinkt grauenhaft da unten. Als würde da was verwesen." Sie verzog das Gesicht.
Ich war seit vielen Jahren nicht mehr im Keller gewesen. Das hatte ich immer bereitwillig meinen Geschwistern überlassen. Der Ort erweckte Erinnerungen, die ich nicht haben wollte. Keiner von uns wollte sie haben, aber manchmal musste es sein. Wenn wir nicht wollten, dass der Christbaumschmuck unser Wohnzimmer versperrte, oder wir nicht kalt oder im dunkeln Duschen wollten, wenn bei den Sicherungen oder dem Boiler etwas nicht stimmte. Nur waren es meistens Owen oder Jed, die sich mit Taschenlampen bewaffnet nach unten wagten.
Aber bevor Brielle weiter meckern und mich im Endeffekt wirklich für Beth halten würde, strampelte ich mir die Decke von den Beinen. Während meine Schwester meinte, dass Owen und Jed den Baum zerschneiden würden, damit wir ihn verheizen konnten, hob ich den ersten Karton hoch. Er war nicht schwer, aber groß und sperrig. Der Eingang zum Keller war direkt neben der Küche.
Mit dem Ellenbogen drückte ich die Klinke der hellen Holztüre herunter. Als ich die finsteren Treppen hinuntersah und den ersten Schritt tun wollte, war mein Körper plötzlich wie eingefroren. Nur meine Hände zitterten und der Karton entglitt mir plötzlich und polterte die Treppen nach unten, wobei dessen kompletter Inhalt natürlich auf den Boden fiel und sich wunderbar im Dunkeln verteilte. Vermutlich zerbarsten dabei auch einige Kugeln.
Dieser Geruch, schoss es mir durch den Kopf. Wenn ich ihn nur zuordnen könnte. Mir wurde schlecht. Das Pochen an meinen Schläfen machte sich wieder deutlich bemerkbar und ich wusste, was das bedeutete.
„Anna?", fragte Brielle aus dem Wohnzimmer. „Alles okay?"
„Beth?", flüsterte ich, aber sie antwortete nicht.
„Ist dir die Kiste runter gefallen?" Die Stimme meiner Schwester kam ein wenig näher.
Panisch trat vom Keller zurück und schlug die Türe zu. Meine Hände zitterten so sehr, wie meine Beine nach einem hundert Meter Sprint gezittert hätten und ich konnte nicht mehr ausatmen.
„Nein!", hörte ich mich dann rufen, aber ich wusste jetzt mit Sicherheit, dass es Jamie war. Meine Stimme war hoch und kindlich. Er fuhr herum und sah Brielle an, die einige Schritte von uns entfernt stand und verwirrt aussah.
Ich spürte Jamies Erschrockenheit. Er erkannte Brielle nicht sofort. Logisch, er hatte sie bestimmt vor Jahren zum letzten Mal gesehen -als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Und an Thanks Giving hatte er bestimmt nicht auf meine Geschwister geachtet. Es war ein seltsames Gefühl. Ich wusste, dass sie uns gegenüberstand, aber gleichzeitig kam sie mir so unfassbar fremd vor.
„Ich geh da nicht runter!" Jamie atmete schwer.
Meine Schwester verstand natürlich im ersten Moment gar nicht, was los war, bis ihr nach einigen Sekunden dämmerte, dass es nicht mehr ich war, die vor ihr stand. Und diese Situation überforderte sie eindeutig. Einige Male versuchte sie etwas zu sagen, aber ihr Gehirn war vermutlich so leer wie meines. Schließlich machte sie einige vorsichtige Schritte auf ihn zu.
„Du bist Jamie, oder?"
„Ich geh da nicht runter!", rief er wieder und ich spürte, dass er am liebsten weggelaufen wäre. „Ich mach das nicht! Niemals! Nie wieder!"
„Okay, okay", versuchte Brielle ihn zu besänftigen. „Ähm... Darf ich fragen, warum du da nicht runter willst?"
„Die Truhe!", rief Jamie und meine Augen wanderten nervös hin und her.
Brielle sah ihn einfühlsam an. „Ich weiß, aber... Unser Vater ist tot. Er wird dir nicht mehr wehtun, versprochen."
„Nein!" Meine Wangen wurden feucht und meine Sicht verschwamm. „Er hat sie eingesperrt!"
Jetzt schien Brielle vollends verwirrt. Genauso wie ich. „Von wem sprichst du? Redest du von Anna? Oder Beth?" Es war eine ziemlich unlogische Frage, aber nicht unbedingt unberechtigt.
„Er hat sie eingesperrt!", rief er wieder. „Sie ist da drinnen! Das riecht man doch!" Er weinte immer schlimmer und Brielle trat mit schockiertem und ängstlichem Gesichtsausdruck zurück.
„Wovon redest du? Wer ist in der Truhe?"
Mit tränenüberströmtem Gesicht sah er Brielle an. „Er hat gesagt, dass er mich auch umbringt, wenn ich jemandem sage, dass sie da drinnen ist."
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Annabeth
Mystery / Thriller„Wenn ich abends einschlafe, dann weiß ich nicht, ob in meinem Körper Anna oder Beth aufwachen wird." -- -- Wann Beth sich in Annas Kopf eingenistet hat, weiß Anna nicht mehr. Sie weiß nur, dass Beth eine Menge schlechter Entscheidungen trifft, die...