Prolog

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Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass diese Geschichte gut enden wird.

Aber ich war nie eine große Schönrednerin.

Mein Name ist Annabeth Carter. Heute bin ich fast zwanzig Jahre alt.

Ich weiß nicht, ob meine Geschichte es Wert ist, erzählt zu werden, aber hier, in Chelsea, einer Gemeinde in der Nähe von Ottawa, Kanada, haben mich mein Leben lang alle für verrückt gehalten. Vielleicht bin ich es ja. Verrückt.

Aber so unglaublich sich diese Geschichte auch anhören mag, sie ist wahr.

Und sie beginnt vor knapp dreizehn Jahren, als ich meiner Psychiaterin gegenüber gesessen bin, in dem farbenfrohen Zimmer, auf den bunten Zwergenstühlen und sie versucht hat, aus mir schlau zu werden.

-

„Anna?" Die Frau lächelte mich an. Ich hatte eine Weile nichts mehr gesagt, sondern nur aus dem Fenster gestarrt. Es war Winter und ein ganz gemeiner, kalter Tag mit schneidendem Wind, der einen Unterschlupf in warmen Geschäften suchen lassen wollte, aber hier am Rand von Chealsea, war das nicht zu schaffen. Draußen wurden die Schneeflocken klein und fest wie Styroporkügelchen durch die Luft gewirbelt.

Die Frau mit den kurzen braunen Locken seufzte. „Du wirkst nicht wie ein Mädchen, das ich mit Süßigkeiten oder Spielen dazu überreden könnte, mir die Wahrheit zu sagen. Aber wir können auch den ganzen Tag hier sitzen." Ich mochte sie nicht. Obwohl sie nett war. Aber sie redete mit mir, so wie Erwachsene eben mit Kindern redeten. So herablassend. So oberflächlich. Ich drehte mein Gesicht wieder zu ihr.

„Warum willst du nicht schlafen?", wiederholte sie ihre Frage sanft. Ich zuckte mit den Schultern. „Dein Papa hat gesagt, dass du dich die letzten drei Tage dagegen gewehrt hast, ins Bett zu gehen. Hast du denn tagsüber ein wenig geschlafen?" Ich schüttelte den Kopf. „Mir wurde gesagt, dass du schlafwandelst. Liegt es daran? Hast du Angst davor?" Wieder schüttelte ich den Kopf. Die Frau seufzte. „Anna, nicht zu schlafen, kann dich sehr krank machen, weißt du? Hast du Angst, dass etwas passiert, wenn du schlafen gehst?" Meine Augen brachen wie von alleine den Blickkontakt zu ihr ab. Ja, früher hatte ich Angst gehabt, aber jetzt nicht mehr. Zumindest hatte ich nicht mehr vor denselben Dingen Angst.

„Wenn ich einschlafe..." Meine Stimme war kaum mehr, als ein Flüstern. „...dann wache ich nicht immer als ich auf." Nicht mehr, ergänzte ich in Gedanken.

„Was meinst du damit?" Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Wie sollte ich etwas erklären, das ich selbst nicht verstand? Die Frau in der blauen Bluse beugte sich ein wenig vor. „Wenn du sagst, du wachst nicht als du auf, meinst du, dass du nicht in deinem Körper aufwachst?" Sie sprach so langsam, als hätte sie Angst, ich könne sie nicht verstehen. Wieder ein Kopfschütteln.

„Ich sehe noch gleich aus."

„Fühlst du dich anders?"

„Manchmal..."

„Was ist es, das dich anders fühlen lässt?" Schulterzucken. Ein Kitzeln auf meinen Wangen verriet mir, dass ich angefangen hatte zu weinen. Dabei war ich gar nicht traurig. Nur müde.

Die Frau legte den Block weg, stand auf und kniete sich dann vor mich. Jetzt war sie fast kleiner als ich. Ihre Augen waren freundlich und ich fragte mich, ob sie je versucht hatte, ihre Sommersprossen zu zählen. Ich mochte ihre großen Ohrringe. Sie erinnerte mich an meine Mom. „Anna, wenn du mir sagst, was los ist, kann ich dir vielleicht helfen."

Mit dem Ärmel fuhr ich mir über den Mund und schniefte. Zweifelnd sah ich die Frau an. Konnte ich ihr trauen? Meine große Schwester hatte mich nur ausgelacht und gemeint, ich solle meine unsichtbaren Spielkameraden vergessen. Ich sei zu alt dafür. Ich hätte einen Knall.

AnnabethWo Geschichten leben. Entdecke jetzt