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Die meiste Zeit zog ich es vor, nicht über meine Kindheit nachzudenken. Die schlimmste Zeit hat erst aufgehört, als Owen sechzehn oder siebzehn war und so viel trainiert hat, dass er einfach stärker war als unser Vater und im Notfall eingreifen konnte. Trotzdem hat die emotionale Misshandlung nicht aufgehört, aber das habe ich erst so richtig verstanden, als er plötzlich nicht mehr da war und die tägliche Tyrannei endgültig sein Ende gefunden hat.

Bis heute ist mir rätselhaft, wie Brielle, Owen und Jedrek so normal werden konnten.

Ich habe mich auch nach dem Tod meines Vaters über viele andere Betroffene von Misshandlungen und daraus resultierender DIS informiert. Manche von ihnen, haben mir von ihren Traumata erzählt.

Ich kann mich an eine Person erinnern -ich möchte weder Name, noch Geschlecht, noch Alter zum Schutz dieser Person nennen- die mir berichtet hat, man habe ihr, wie sie ein Kind gewesen ist, die Arme und Beine fest an den Körper gebunden und sie dann so lange mit Elektroschocks gefoltert, bis sie orientierungslos war und ihre Gliedmaßen nicht mehr spüren konnte. Dieser Person wurde gesagt, dass man ihr Arme und Beine amputiert hätte. Daraufhin hat das Kind eine Schlangenidentität entwickelt. Eine Schlange hat weder Arme, noch Beine, kann sich aber trotzdem fortbewegen. Kindergedanken sind so simpel...

Ich wusste, dass Ivory viele männliche Identitäten entwickelt hat, weil sie als Kind von ihrer richtigen Mutter an einen Prostitutionsring verkauft wurde und stetig den Gedanken im Kopf gehabt hat, dass die Dinge, die ihr angetan wurden, nie passieren würden, wenn sie ein Junge wäre.

Kinder, die wie Hunde behandelt werden, in Hütten schlafen, Hundefutter essen und an der Leine auf allen Vieren durch das Haus kriechen müssen, neigen durch diese Menschenunwürdigkeit dazu, eine Hundeidentität zu entwickeln.

Ich habe auch schon von Katzen-, Fliegen-, Hexen-, Feen-, Drachen-, Gestaltwandler- und Geisteridentitäten gehört.

Ich habe von Fällen gehört, in denen Kinder in Sekten aufgewachsen sind und vor die schrecklichsten Wahlen gestellt wurden. Zum Beispiel konnten sie wählen zwischen „Die Schmerzen selbst weiter zu ertragen" oder „Die Schmerzen einem anderen Kind zufügen". Wenn man einem Kind eine solche Entscheidung aufzwingt, die schon Erwachsene kaum tragen könnten, finde ich es nicht weiter verwunderlich, dass das Gehirn die bestehende Persönlichkeit von dem Geschehen trennt und eine andere kreiert, die den Charakter hat, um eine der beiden Optionen durchzuziehen. Ob es nun eine hohe Schmerztoleranz ist, die die neue Identität erhält, oder kaum vorhandene Gewissensbisse.

Wenn all diese Misshandlungen nämlich zu einer Zeit geschehen, in der das Kind eigentlich eine Persönlichkeit entwickeln sollte, und das Kind an einen Punkt kommt, an den es all das nicht mehr ertragen kann, schaltet sich der grauenhafteste und zugleich faszinierendste Schutzmechanismus des Gehirns ein und spaltet die Persönlichkeit. Einmal, zweimal, dreimal, hundertmal. Eigenes Aussehen, Alter, Geschlecht, eigene Herkunft, Religion, sexuelle Orientierungen, Vorlieben, Talente, Allergien, Reaktionen auf Medikamente,... Diese Liste könnte Seitenlang weiter gehen.

Ich kenne Betroffene, die über hundert Identitäten haben, aber die Hälfte davon kennen sie gar nicht, weil sie nie an die Oberfläche kommen und demnach nie ins Bewusstsein treten. Lediglich Erzählungen anderer Identitäten bestätigen deren Existenz.

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Ich hätte Zach am nächsten Tag gerne gesehen und mich für mein Verhalten und meinen Rausschmiss entschuldigt, aber Beth wachte auf und war darüber so erleichtert, dass sie den ganzen Tag nur auf der faulen Haut lag und meine Geschwister mit ihrer boshaften Laune auf die Nerven ging. Sie prophezeite mir sogar, dass sie sich weigern würde, einzuschlafen, weil wieder einer der Tage war, an denen sie es furchtbar fand, keinen eigenen Körper zu haben und immer nur alle paar Jahre ihr Leben leben zu können. Deshalb beschloss sie (komplett gegen meinen Willen) Sebastian anzurufen, zu dem sie eigentlich schon vor Wochen den Kontakt abgebrochen hatte. Sie nannte ihm meine Adresse und der arme Kauz setzte sich wirklich in sein Auto, fuhr hier her und wurde von Beth mit Reue, Entschuldigungen und meiner Zunge begrüßt, die das Gift seinen Rachen hinunter drückte.

AnnabethWo Geschichten leben. Entdecke jetzt