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Nach dem Abendessen löste Zach sein Versprechen ein und besichtigte mit Beth die große Glocke. Ich hatte bisher auch nur Bilder gesehen und nur welche, die bei Tag aufgenommen wurden. Live, bei Nacht und leichtem Schneefall war Big Ben noch viel atemberaubender. Ich konnte gar nicht recht glauben, wirklich davor zu stehen. Außerdem verhielt sich Beth zum ersten Mal wirklich unkompliziert, und es war uns allen dreien möglich, über sie miteinander zu kommunizieren. Danach sahen wir uns noch die Tower Bridge an, aber als sich der Schnee langsam zu Regen verwandelte, machten wir uns wieder auf den Weg ins Hotel.

Der nächste Tag verlief nicht viel anders, als der erste, mit dem einzigen Unterschied, dass nun alle Fragen, die Beth gestellt worden waren, mir gestellt wurden. Am Ende wurde auch ich gefragt, ob ich einverstanden mit den Tests wäre und ich nickte. Als sich die Gruppe der Ärzte langsam auflöste, ging ich zu dem Physik-Professor Typen.

„Ähm... entschuldigen Sie..."

„Dr. Cromwall", lächelte er und richtete seine Brille.

„Tut mir leid, weder Beth noch ich sind besonders gut mit Namen. Besonders, wenn sich ein Duzend Leute auf einmal vorstellen."

Er nickte verstehend. „Liegt Ihnen was auf dem Herzen?"

„Ich sag doch: Weichgespülter Teddybär", murrte Beth.

„Das ist nur sein britischer Akzent", behauptete ich. „Ich habe eine Frage...", begann ich und Dr. Cromwall sah aufmerksam auf mich herab. „Können Identitäten gefährlich sein?" Er blinzelte mich irritiert an.

„Wieso denken Sie das?"

Mir entfuhr ein kleiner Lacher. „Oh, ich weiß nicht, vielleicht, weil ich mit Gegenständen um mich geworfen und meinen Kopf so oft gegen den Kühlschrank gehauen habe, dass ich im Krankenhaus gelandet bin. Also würde ich gerne wissen, ob sowas normal ist. Ob sowas öfter passiert."

„Auf diesen Vorfall werden wir durchaus noch näher eingehen, aber..." Der Arzt lehnte sie vor. „Anna, Sie wissen, dass sich Identitäten wie normale Menschen entwickeln. Manche entwickeln Depressionen und Selbstverletzungsgefahr und verletzten den Gastgeber, wenn sie ins Bewusstsein treten. Andere Persönlichkeiten sind aufgeregt und immer fröhlich. Andere haben Angststörungen oder sind schnell wütend und aggressiv. Oft muss man in einer Therapie erst herausfinden, welche Charakterzüge zu welcher Identität gehören und welche der originalen Persönlichkeit entsprechen. Das müssen wir in Ihrem Fall nicht tun. Aber für die Entwicklung der Persönlichkeiten gibt es keine Regeln. Im Normalfall sind andere Identitäten jedoch nicht gewalttätig."

„Ja, das hab ich gemerkt", murmelte ich sarkastisch und spürte, wie Zach von hinten an mich herantrat und meine Hand nahm. „Aber ich bin nicht der Normalfall, oder?" Dr. Cromwall schwieg. „Was, wenn meine Identität jemanden verletzt? Ich meine, ich bin drei Tage außerhalb der Stadt umhergewandert und kann mich an nichts erinnern. Ich hätte zu der Zeit jemanden erschießen können, ohne davon zu wissen. Bin ich nicht gefährlich?"

Er hob beruhigend eine Hand. „Dass Sie oder einer Ihrer anderen Identitäten eine Gefahr darstellt, ist äußerst unwahrscheinlich."

Ich fragte mich, ob er naiv oder ich paranoid war.

Das fragte ich auch Zach, als wir durch das riesige Hotel zu unserem Zimmer wanderten.

„Vielleicht beides", meinte er. „Aber betrachten wir es doch mal ganz logisch: Es ist dein Gehirn, das diese Persönlichkeiten erschaffen hat. Sie sind alle ein Teil von dir, also glaube ich nicht, dass eine von ihnen gefährlich ist." Er drückte auf den Knopf zum Aufzug.

Ich schüttelte den Kopf. Ivory hatte Narben an ihrem Körper, die sie sich nie zugefügt hat, sondern eine ihrer anderen Persönlichkeiten. Wenn Identitäten den eigenen Körper verletzten, warum dann nicht auch andere?

AnnabethWo Geschichten leben. Entdecke jetzt