Ein paar Stunden später stand Conway vor der Türe. Ich hatte ihn gebeten herzukommen, weil mir ein bisschen professionelle Hilfe eines gottverdammten Psychiaters in dieser Situation vermutlich nicht schaden konnte. Ungläubig hörte er sich die Geschichte an.
„Also hat Jamie... einen Mord erlebt? Den Mord an Ihrer Mutter", fragte er schließlich fassungslos.
„Ich weiß nicht, was er erlebt hat...", schniefte ich. Diesmal hatte ich schließlich keinen Flashback gehabt. Ich wusste nur, dass meine Mutter tot war und Jamie gewusst hatte, dass ihre Leiche bei uns im Keller in der Truhe gelegen hatte. Deshalb hatte er vermutlich nicht nach Hause wollen. Deshalb hatte er eine solche Angst gehabt. Weil er gewusst hatte, was dort war.
„Was soll ich denn jetzt tun?", fragte ich und schnäuzte mich. Das Taschentuch knüllte ich zitternd zusammen.
Conway schien auch keine Antwort zu haben, was bei einem ausgebildeten Psychiater eigentlich nicht der Fall sein sollte, oder? Aber ich machte ihm keinen Vorwurf. Ich an seiner Stelle hätte auch nicht gewusst, was ich mir geraten hätte. Er hatte diese ganze Geschichte schon viel zu nahe an sich heran gelassen, als dass er noch zu hundert Prozent professionell, distanziert und objektiv hätte bleiben können.
„Was Sie auf jeden Fall nicht tun dürfen, ist vor der Situation wegzulaufen", sagte er schließlich. „In solchen Fällen ist es nur natürlich und menschlich, dass wir die Flucht ergreifen wollen. Dass wir schreckliche Dinge beiseiteschieben und ignorieren wollen. Aber das wird in diesem Fall nicht funktionieren und mehr Schaden anrichten, als Sie oder ich reparieren könnten. Im schlimmsten Fall könnte es eine neue Identität erschaffen, sollten Sie Ihre Gefühle nicht bald in den Griff bekommen." Ich sah auf meine Finger, die das Taschentuch an einigen Stellen einrissen. Mir war klar, dass ich nicht davor weglaufen durfte, aber ich wollte nicht einmal an all das denken. Ich wollte mich dem nicht stellen. Ich glaubte nicht, dass ich stark genug war, um das durchzustehen. Eine Persönlichkeit, die genau darauf ausgelegt war -die so konzipiert war, um mit all dem fertig zu werden- hätte mir sogar unheimlich gut getan.
„Sie müssen sich an Ihre Geschwister halten. Sie gehen gerade durch denselben Schmerz wie Sie. Es wird leichter, wenn Sie sich mit Leuten umgeben, die Sie verstehen, weil Sie durch dasselbe gehen."
„Ich bin nicht sicher, ob sie mich verstehen werden", warf ich ein. Jed schien mich schließlich zu hassen. Ein Teil von mir hasste mich auch. Irgendwie hatte Jed doch recht. Ich hatte es all die Jahre über gewusst. Mein Körper und mein Gehirn hatte es erlebt, und doch...
„Es ist nicht Ihre Schuld", sagte Conway und betrachtete mich bestimmt.
„Ich habe es erlebt. Mein Gehirn hat es erlebt", erwiderte ich, in der Hoffnung, meine aufkommenden Zweifel mit wissenschaftlichen Fakten niederzureißen.
„Dissoziative Identitätsstörungen sind komplex genug, um solche Erlebnisse für alle Persönlichkeiten, außer jener, die Zeuge war, auszulöschen. Dafür hat Ihr Gehirn schließlich überhaupt erst auf diesen brutalen Überlebensmechanismus zurückgegriffen. Weil Ihnen zu viele und zu schreckliche Dinge passiert sind, als dass sie eine Person -ein Kind- ertragen könnte", er sah mich eindringlich an. „Dass Jamie davon wusste und Sie nicht, ist absolut nicht Ihre Schuld."
„Beth wusste es auch", sagte ich bitter. „Sie hätte etwas sagen müssen! Sie hatte die Möglichkeiten dazu, etwas zu sagen, aber sie hat-" Mir stiegen wieder die Tränen in die Augen, vor Wut und Verzweiflung. Mein eigenes Gehirn hatte mich hintergangen und betrogen, wie krank und verdreht war das denn?
„Anna, Beth wollte Sie beschützen."
„Sie hat alles nur schlimmer gemacht", weinte ich. „Meine Mom ist in dieser Truhe verrottet, weil Beth ihren Mund nicht aufgemacht hat. Ich habe mein Leben lang gedacht, dass meine Mom die schlimmste Person auf Erden ist. Schlimmer noch als mein Vater, weil sie uns mit ihm alleine gelassen hat. Meine Geschwister und ich haben sie so gehasst." Zitternd holte ich Luft, weil ich die Schuldgefühle in meiner Brust nicht unter Kontrolle bringen konnte. „Wir wussten nie, was wirklich passiert ist, wir haben mit der Ungewissheit ihres Verschwindens gelebt und konnten uns nie verabschieden. Haben Sie eine Ahnung, wie schrecklich das war?" Mit dem Ärmel meines Pullovers wischte ich mir die Tränen von den Wangen. „Jamie mache ich keinen Vorwurf. Er konnte nie mit mir kommunizieren und ist auch heute noch ein Kind. Aber Beth wusste es und hätte immer die Möglichkeit gehabt, mir die Wahrheit zu sagen!"
„Denken Sie nicht, dass Beth einfach selbst Angst hatte?"
Ich lachte auf. „Sie hatte kein Recht, Angst zu haben! Nehmen Sie sie nicht in Schutz!"
Conway lehnte sich vor. „Reden Sie mit ihr. Und reden Sie mit Ihren Geschwistern."
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Gibt es nicht noch eine andere Option?"
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte nicht. Sie können nur versuchen, diese Situation gut genug zu verarbeiten, damit sich keine neue Persönlichkeit abspaltet."
-
Denn wie bereits erwähnt, kann es auch im erwachsenen Alter zur Spaltung zweier Persönlichkeiten kommen, wenn eine DIS bereits besteht. Dr. Conway hat gemeint, dass die Entwicklung einer neuen Persönlichkeit sofort passieren, oder auf sich warten lassen kann. Im schlimmsten Fall hätte ich vermutlich nicht einmal davon mitbekommen und wäre wieder bei null gewesen.
Aber da ich bis heute nichts von einer neuen Persönlichkeit weiß, nehme ich an, dass das nicht passiert ist, was mich verwundert, denn die Dinge die in dieser Nacht geschehen sind, sind noch viel schrecklicher, als zu erfahren, dass meine Mutter all diese Jahre tot in unserem Keller gelegen hat.
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Annabeth
Misterio / Suspenso„Wenn ich abends einschlafe, dann weiß ich nicht, ob in meinem Körper Anna oder Beth aufwachen wird." -- -- Wann Beth sich in Annas Kopf eingenistet hat, weiß Anna nicht mehr. Sie weiß nur, dass Beth eine Menge schlechter Entscheidungen trifft, die...