Es war seltsam wie schnell die Zeit manchmal vergehen konnte, obwohl sie doch bei anderen Gelegenheiten zäh wie Honig an einem vorbeitröpfelte. Wie lange war es her, dass ich einem unserer neuen Angestellten erlaubt hatte seinen Hund auf dem Anwesen zu behalten? Es mochten gut zwei Wochen seit diesem Tag vergangen sein. Anfangs hatte ich Angst gehabt, Vater oder Clemence oder sonst irgendjemand würde es herausfinden, Fragen stellen und das Tier schließlich doch vertreiben lassen, aber dazu war es zum Glück nicht gekommen. Im Gegenteil; der Hund verhielt sich so unauffällig und wohlerzogen, dass kaum ein Mitglied meiner Familie seine Anwesenheit je registrierte. Meines Wissens nach versuchte einzig meine kleine Schwester regelmäßig das Vertrauen Admirals zu gewinnen, um mit ihm zu spielen.
Die Tage vergingen beinah ereignislos, während jeder seinen jeweiligen Aufgaben (mehr oder weniger) nachkam. Seine Lordschaft und die Countess, meine Eltern, gaben stundenlange Empfänge und Abendessen bei denen ich Klavier spielte oder tanzte oder mich in ausgesucht höflichem Ton mit der gehobenen Gesellschaft unterhielt; Clemence lief weiterhin durch das Anwesen, als hätte er ein Lineal verschluckt und das Nachschlagewerk für Etikette dazu, während Adrian fieberhaft seine Jagd- und Reitfähigkeiten trainierte, in der Hoffnung, den älteren Bruder eines Tages zu übertreffen.
So auch am heutigen Tag, wie ich feststellte, als ich kurz nach Mittag aus dem Fenster blickte und die jugendlich-schlaksige Gestalt (eine Tatsache, die ihn ungemein ärgerte) meines kleinen Bruders auf die Ställe zueilen sah. Ich fand mich in letzter Zeit frustrierend häufig am Fenster wieder, wo ich mich fortträumte aus diesem goldenen Käfig, der mein Zuhause war. Dieses Mal verweilten meine Gedanken jedoch bei Adrian. Er schien seine Reitgerte vergessen zu haben - zumindest sah ich sie nirgendwo an ihm, und er schlug auch nicht damit zum Spaß gegen die hoch gewachsenen Pflanzen in den Beeten. Vielleicht sollte ich besser loslaufen und sie ihm bringen. Zwar wusste ich, dass es in den Ställen hunderte anderer Reitgerten gab, aber ich wusste auch, was für ein Theater Adrian veranstalten würde, wenn er nicht seine bekommen konnte. Er war in letzter Zeit etwas aufbrausend - nun, eigentlich schon immer - und rechthaberisch bei jeder Gelegenheit. Ständig beklagte er sich über den einen oder anderen der ihm zugeteilten Angestellten und ihre angeblich so unzureichende Arbeit. Es schien fast unmöglich eine Aufgabe zu seiner vollen Zufriedenheit auszuführen. Ganz der Sohn seiner Mutter, dachte ich mit einem bitteren Lächeln, versteckte dieses aber sogleich wieder. Solche Gedanken sollte ich nicht haben. Er war trotz allem mein Halbbruder und ich hatte ihn lieb.
Schnellen Schrittes lief ich also los um die vergessene Reitgerte zu holen und anschließend zu den Ställen hinunter. Ich hätte natürlich auch ein Hausmädchen schicken können - für eine junge Dame in meiner Position wäre das sicher angemessener gewesen. Aber vielleicht hatte ich es genau aus diesem Grund nicht getan. Schon von weitem hörte ich Adrians aufgebrachte Stimme, und obwohl ich zunächst nicht verstehen konnte was er sagte war es offensichtlich, dass sein Ärger dem Stallknecht galt. Der junge Mann war deutlich größer als Adrian, aber dennoch fuchtelte mein Bruder drohend mit einem Finger vor dem Gesicht des Älteren herum, ganz so als könne er ihn damit einschüchtern."...kann ich ja wohl selbst am besten beurteilen!" , meckerte er gerade als ich in Hörweite kam, und gleich darauf: "Sehe ich vielleicht aus als könnte ich mein eigenes Pferd nicht reiten? Ich nehme doch keine Vorschläge von einem Stallknecht an! Wer bin ich, ein Bauerntölpel vielleicht?!"
Stirnrunzelnd lief ich näher heran, aber mein Bruder bemerkte mich nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen jungen Hengst ruhig genug zu halten um aufsteigen zu können. Zugegeben, ich war keine Expertin was Pferde anging, aber ich verstand sie doch gut genug um zu erkennen, dass das Tier unruhig umhertänzelte und allgemein nicht besonders zufrieden mit der lauten, ungeduldigen Art seines Herrn war. Dieser saß mittlerweile im Sattel, von wo aus er selbstgefällig auf seinen Stallknecht herabblickte, obwohl er seltsam angestrengt dabei aussah.
"Adrian!" Ich hielt seine Reitgerte noch immer in den Händen und rief seinen Namen, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. "Vergiss nicht-", begann ich noch, aber der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken als mein kleiner Bruder auf einmal die Zügel des ohnehin schon gereizten Hengstes scharf anzog.
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Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...