Unmöglich. Konnte er etwa wirklich alles vergessen haben? Daran wagte ich kaum zu glauben, wo doch die Erinnerung in meinem Kopf noch immer viel zu real war. Könnte Cyril lügen, um sich selbst zu schützen? Vielleicht, aber auch das wollte ich nicht glauben. Dafür war sein Gesichtsausdruck viel zu echt und zu ehrlich. So etwas konnte er unmöglich schauspielern, sonst wäre er ganz sicher nicht hier sondern in der Stadt, wo er an einem der vielen renommierten Theater eine Hauptrolle spielen würde. Aber er wirkte aufrichtig verwirrt. So sehr, dass es mir beinahe Leid tat ihn so angefahren zu haben – und doch blieb die unangenehme Möglichkeit bestehen, dass er seine Erinnerung doch nicht ganz so vollständig verloren hatte, wie er behauptete.
Unwillkürlich verzog ich das Gesicht als Cyril zusammentrug was er noch wusste und dabei auf Clemence' Besuch zu sprechen kam. So wenig ich auch von dem Essen mitbekommen hatte, wusste ich dennoch wie ungewöhnlich es war, dass jemand scheinbar unabgesprochen mit uns speiste. Nun, da ich langsam in die Realität zurückfand, fiel mir auch auf dass es sich speziell um Clemence' Besuch gehandelt hatte und nicht etwa um Vaters, was ebenfalls seltsam war. Ohne genau sagen zu können wieso, hatte ich ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache und verfluchte mich einmal mehr für meine geistige Abwesenheit während des Essens. Zeit, diesem Gefühl nachzugehen blieb mir momentan jedoch nicht, denn schon im nächsten Moment fragte Cyril, was vorgefallen war. Damit stürzte er einmal mehr mein Denken ins Chaos. Ich fühlte mich, als müsste ich jeden Moment in Tränen und irres Lachen gleichzeitig ausbrechen. Ob aus Verzweiflung oder Erleichterung vermochte ich kaum zu sagen. Himmel, er wusste es wirklich nicht mehr! Wahrhaftig nicht, denn dass er mir eine solche Entschuldigung vorspielen würde passte einfach kein bisschen in das Bild, das ich mir bisher von Cyril gemacht hatte.
Dann war ich also wirklich die einzige Person, die noch wusste, was vorgefallen war. Das.. das war gut, nicht wahr? Darüber sollte ich mich freuen. Solange ich still blieb, würde es sein als wäre nie etwas passiert – und genau so sollte es ja auch sein, richtig?
Ohne es wirklich zu wollen oder geplant zu haben begann ich, im Raum auf und ab zu laufen, wobei ich Cyril in unregelmäßigen Abständen unsichere Blicke zuwarf. Da war er wieder, der ewige Konflikt zwischen dem, was ich tun sollte und dem, was richtig war. Ich konnte es ihm keinesfalls erzählen, ganz bestimmt nicht, und wenn er noch so sehr darum bat. Niemand durfte je etwas erfahren. Zwar hatte mich sein Verhalten empört und erschreckt, das schon, aber trotz allem nicht genug um ihn in ernsthaften Schwierigkeiten sehen zu wollen. Ich wusste, was schon ein einziges Wort anrichten könnte. Vielleicht spielte auch ein ganz klein wenig die Angst vor der Reaktion meiner Familie mit hinein. Natürlich war es nicht meine Schuld gewesen, aber dennoch, man konnte nie wissen.
Besser, die Sache blieb ein Geheimnis. Mein Geheimnis.
Ich unterbrach mein rastloses Umherlaufen abrupt, aber noch bevor ich eine Möglichkeit finden konnte Cyril meine Entscheidung mitzuteilen, sprach dieser erneut. Verdammt.
„Ich glaube dir.", hörte ich mich sagen, „Obwohl ich aufrichtig wünschte, dem wäre nicht so." Denn wenn er noch immer die Wahrheit sagte, und dies auch die ganze Zeit schon getan hatte.. wenn seine Handlungen zwar zuvor vom Fieber beeinflusst wurden, aber dennoch aufrichtig waren..? Was bedeutete das? So sehr ich seine Komplimente auch als eine weitere Nachwirkung des Fiebers abtun wollte, konnte ich dennoch nicht leugnen, dass sie dieses Mal weniger nach einem unangemessenen Flirt klangen, sondern einfach nur ehrlich. Und genau das machte die ganze Sache noch viel schlimmer."Ich bin mir sicher, ich war Ihnen gegenüber aufrichtig."
Darauf hatte ich keine Antwort. Ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. „Nein."
"...so denke ich doch, dass es das wert war."
Ich starrte Cyril an und er starrte zurück. In seinen Augen glaubte ich die stumme Bitte nach der Wahrheit zu erkennen, aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein.„Cyril, du-.. Du hoffnungsloser Idiot.", brachte ich schließlich hervor, aber es klang nicht annähernd so ärgerlich wie es eigentlich hätte klingen sollen. „Das kann ich nicht akzeptieren, das geht einfach nicht! Selbst wenn es tausendfach wahr ist, so etwas darfst du nicht laut aussprechen. Nicht, solange dich dabei jemand hören könnte. Und schon gar nicht vor mir. Sieh dich doch um! Dieses Haus ist vermutlich der letzte Ort, an dem die Wahrheit zu sagen ratsam ist."
Schon während ich dies aussprach wurde mir jedoch klar, dass Cyril wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung hatte, warum nicht. Ich musste wirken als hätte ich vollkommen den Verstand verloren – erst verlangte ich eine Erklärung für sein Verhalten, dann wurde ich wütend wenn er mir genau das gab.
„Es tut mir Leid. Doch wenn du hier im Haus bestehen willst, dann solltest du lernen den Mund zu halten und deine wahren Gedanken zu verbergen, so wie alle anderen auch. Du musst aufpassen was du sagst, und noch viel mehr, zu wem. Vielleicht hast du Recht – ich bin nicht immer ich selbst. Aber wir haben alle unsere Rollen zu spielen. Wenn du keine Schwierigkeiten willst, dann solltest du dich schnellstmöglich an die deine gewöhnen."Ich wünschte ich könnte es dabei belassen, doch die Frage, was passiert war, hing noch immer unbeantwortet im Raum. Ich musste mich an einer Stuhllehne festhalten um nicht erneut auf und ab zu gehen, aber Weglaufen würde mir jetzt ohnehin nicht helfen.
„Ich werde dir nicht sagen was vorgefallen ist, und dafür solltest du dankbar sein.", sagte ich, mit einem bittenden Unterton der mir ganz und gar nicht gefiel, aber es wollte mir nicht gelingen ihn aus meiner Stimme zu verbannen. „Ich bin gewillt zu akzeptieren dass deine Handlung dem Fieber geschuldet war und die ganze Sache zu vergessen. Es gibt keinen Grund dich mit dem Wissen um etwas zu belasten, für das du keine Verantwortung übernehmen kannst, da du ohnehin nicht bei klarem Verstand warst. Ganz egal ob du nun glaubst, dass du dabei trotzdem aufrichtig warst."Vielleicht konnte ich es ja tatsächlich ebenfalls vergessen, wenn ich mich nur genug bemühte. Immerhin war es ein anstrengender Tag gewesen und Cyril war ein gutaussehender junger Mann. Ich könnte genauso gut eingeschlafen sein und etwas Seltsames geträumt haben, nicht wahr? Aber schon bei dem bloßen Gedanken daran schoss mir die Röte ins Gesicht. Unwillkürlich strich ich über meine Lippen, auf denen ich noch immer die leichte Berührung wahrzunehmen glaubte, die so nie hätte stattfinden dürfen.
Es war nicht zu leugnen. Es war geschehen, und ich würde den Kuss nicht vergessen. Aber ich war gut darin, Geheimnisse zu bewahren.
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Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...