30_Eleanor Joan Leighton

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Irgendwie war es Cyril gelungen mir noch ein wenig näher zu kommen als zuvor. Das sollte nicht möglich sein, aber er hatte es dennoch geschafft. Seine warmen Hände lagen auf meinen geröteten Wangen, und seine goldgesprenkelten Augen waren nur Zentimeter von meinen entfernt. Ich sollte erleichtert sein, dankbar sogar, nachdem er mir jetzt zugesichert hatte dass die Erinnerung an den Kuss einzig und allein mir gehören würde. Das änderte zwar nichts daran dass Cyril davon wusste, aber seine Nähe nahm mir jeglichen Verstand, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Niemand würde je etwas erfahren, solange es mir nur gelang die Erinnerung sicher zu verwahren. Aber darin hatte ich genug Übung. Zumindest, wenn man dieses als nur ein weiteres der vielen Geheimnisse des Hauses sehen wollte.

Eigentlich sollte damit nun ein großer Teil der Anspannung von mir abfallen, aber das tat er nicht denn noch immer war Cyril mir so nah wie sonst kaum jemand vor ihm. Seine sanften Berührungen waren unmöglich zu ignorieren. Viel schlimmer jedoch waren seine Worte, die sich wie kleine Nadelspitzen in meinen Verstand und mein Herz bohrten. Verständnisvolle, ehrliche Worte die ich nicht wahrhaben wollte aber gleichzeitig auch nicht leugnen konnte. Jedenfalls nicht ohne vollkommen lächerlich zu wirken, denn er hatte meine Halbwahrheiten und Lügen ohnehin längst durchschaut.

Mein Ärger von vorhin war mittlerweile vollkommen verflogen, und ob er sich dessen bewusst war oder nicht, ich konnte gar nicht anders als sein Angebot anzunehmen. Ich brauchte dringend jemanden vor dem ich mich nicht verstellen musste, und sei es auch nur für einen Moment. Nie zuvor hatte ich mich in der Gegenwart einer anderen Person so sicher und gleichzeitig so unsicher gefühlt. Mit seinen Worten und seiner warmen Berührung, die mir das Gefühl gab es wäre schon alles in Ordnung so, entfernte Cyril Stück für Stück die Maske, die ich sonst so selbstverständlich zur Schau trug. Ich sollte das verhindern, aber mittlerweile hatte ich weder die Kraft noch den Willen mich noch länger dagegen zu wehren.

Ich schloss meine Augen um seinem Blick nicht länger standhalten zu müssen, einem Blick der scheinbar durch meine Worte sah wie durch Glas. Schon nach wenigen Sekunden riss ich sie jedoch wieder auf: Cyril's Finger begannen zu wandern. Während mein eigener augenblicklich stockte, spürte ich seinen Atem auf meinen Lippen. Unfähig, dabei auch nur einen Laut von mir zu geben war ich mir des heftigen Pochens meines Herzens, Cyril's Nähe und des bevorstehenden Totalausfalls meines Verstandes für den Bruchteil einer Sekunde übermäßig bewusst. Erst, als Cyril es sich in letzter Sekunde doch noch anders überlegte konnte ich wieder atmen, obwohl das Adrenalin mir noch immer durch den Körper schoss und meine Sicht für einen Moment verschwimmen ließ.

"Ihr seid die einzige Person, die mich gerade noch vor einem Sturz bewahrt."

Gedanken lesen konnte er also auch? Genau das war mir ebenfalls gerade durch den Kopf gegangen, denn obwohl ich mich an Cyril festhielt wie ein Ertrinkender am Rettungsring hatte dieser beinahe-zweite-Kuss meine Muskeln scheinbar in Gelee verwandelt. Dass sich Cyril's Zustand wieder zunehmend verschlechterte bemerkte ich zunächst gar nicht, bis er weitersprach und somit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zog. Jetzt erst fiel mir auf, dass er sich tatsächlich mehr auf mich stützte als andersherum.

Er schwankte, und schon bevor er meinem Griff endgültig entglitt spürte ich dass ich ihn niemals würde halten können ohne dabei selbst das Gleichgewicht zu verlieren. Vielleicht mit Mühe an einem normalen Tag, aber ganz sicher nicht mehr heute. Hilflos musste ich mit ansehen wie er stürzte, um schließlich mit einem schmerzhaft klingenden Krachen auf dem Boden aufzuschlagen. Halb aus eigenem Antrieb, halb mitgerissen von Cyril's Schwung fiel ich neben ihm auf die Knie. Unwillkürlich griff ich nach seiner Hand, als könnte ihm das irgendwie Halt geben oder verhindern, dass er erneut das Bewusstsein verlor.

"Cyril?" Ich starrte ihn an, ängstlich, suchte nach einem Zeichen des Erkennens in seinem Blick der jetzt mehr oder weniger ziellos umherflackerte. Das einzige was mich ein wenig beruhigte war sein Grinsen; dieses verdammte, wunderschöne Lächeln dessen Kraft mir selbst in diesem Moment noch die Röte ins Gesicht trieb.

"Ich werde Euch eurer Herz stehlen."

Stille senkte sich über den Raum. Eine Weile wagte ich es kaum diese zu unterbrechen, aber schließlich tat ich es doch: "Herzen kann man nicht stehlen."
Als würde das irgendetwas ändern. Ich wusste dass Cyril etwas anderes gemeint hatte und ebenso, dass es keinen Sinn hatte gegen sein Vorhaben zu protestieren. Vielleicht auch, dass ich gar nicht so dringend dagegen protestieren wollte wie ich eigentlich sollte. Aber er hörte mich wahrscheinlich ohnehin längst nicht mehr.

Einige Minuten vergingen, obwohl es auch mehrere Stunden hätten sein können oder nur wenige Augenblicke. Mir war klar dass ich Cyril in eine angenehmere Position bringen oder zumindest um Hilfe rufen musste, denn so konnte er keinesfalls liegen bleiben und ich alleine war nicht stark genug um ihn zurück auf das Sofa zu heben. Dennoch dauerte es einen Moment bis ich bereit war aufzustehen, oder auch nur seine Hand loszulassen.

"Admiral." Ich hob den Kopf ein wenig um den Hund anzusehen, der nach wie vor seinen Platz an der Tür hielt. "Du wirst doch auf ihn aufpassen, nicht wahr? Jemand wird kommen und helfen. Es dauert nicht lange, versprochen. Das.. das wird schon wieder. Er wird wieder."
Mein Versuch dabei zuversichtlich zu klingen, scheiterte kläglich. Dennoch sah der Hund mir zu als ich langsam aufstand und an einem der - mehr oder weniger - versteckten Auslöser des Klingelsystems zog. Selbst wenn er keines meiner Worte verstanden hatte, so erweckte er doch zumindest den Eindruck eines aufmerksamen Zuhörers. Überhaupt war es mehr ein Versuch gewesen mich selbst zu beruhigen, aber Admiral's Anwesenheit bewirkte, dass ich mich ein bisschen weniger furchtbar fühlte bei dem Gedanken Cyril hier zurückzulassen.

Mittlerweile war es viel zu spät am Abend als dass ich es mir erlauben könnte hier mit ihm gesehen zu werden, noch dazu allein und ohne erklärbaren Grund. Die Dienerschaft war dagegen mit Sicherheit noch wach, und in der Stille musste das Geräusch der Glocke unten weithin zu hören sein. Es sollte nicht lange dauern bis jemand heraufkam. Jemand, der hier hoffentlich besser helfen konnte als ich.

"Pass auf ihn auf." ,bat ich Admiral noch einmal, bevor ich mit einem letzten hilflosen Blick auf Cyril den Raum verließ und so schnell wie möglich die große Treppe hinaufschlich. Oben angekommen hielt ich inne und lauschte einen Moment in die Stille. Erst als ich das Geräusch schneller Schritte in der Galerie vernahm drehte ich mich um, stolperte den Rest des Weges zu meinen Gemächern und warf mich schließlich erschöpft und erleichtert aufs Bett. In der plötzlichen Ruhe standen mir die Ereignisse des Tages noch einmal umso deutlicher vor Augen.
"Zeigt mir Euer wahres Ich." ,flüsterte ich irgendwann in die Dunkelheit, hörbar verzweifelt. "Verdammt, alle anderen hier wollen genau das Gegenteil davon! Wieso du nicht?"

Natürlich bekam ich darauf keine Antwort. Nur ein schläfriges Blinzeln von Chocolate, der es sich mittlerweile ebenfalls auf dem Bett gemütlich gemacht hatte und auch sonst keine Anstalten machte, mir mit meinem Gefühlschaos zu helfen. Jedes Mal wenn ich die Augen schloss war mir, als könnte ich noch immer Cyril's Hände an meinen Wangen spüren, seine weichen Lippen auf meiner Stirn, und obwohl ich lieber sterben würde als je irgendetwas davon zuzugeben, war es kein schlechtes Gefühl. Mein Glück, dass man Herzen tatsächlich nicht wirklich stehlen konnte. Ich sollte auf meines besser Acht geben, nahm ich mir noch vor, bevor mich die Müdigkeit letztendlich übermannte und ich in einen unruhigen Schlaf fiel.

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