Cyril lächelte dankbar, scheinbar ehrlich erfreut über die Chance noch weiter hier arbeiten zu können, und obwohl auch ich eine gewisse Erleichterung verspürte hatte ich ein ungutes Bauchgefühl dabei. Zwei Tage waren wirklich keine lange Zeit um sich von einer Kopfverletzung zu erholen, und schließlich hatte der Doktor mindestens eine Woche Ruhe angeordnet! Aber die würde Cyril nicht bekommen, soviel stand fest. Ich biss mir unbehaglich auf die Lippen, aber vielleicht machte ich mir auch zu viele Gedanken. Cyril hatte sich schließlich selbst dafür entschieden für seine Position hier zu kämpfen. Das hätte er doch sicher nicht getan, wenn er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen würde, nicht wahr? Oder wenn er glauben würde, in zwei Tagen noch nicht wieder fit genug zu sein. Hervorragende Bezahlung hin oder her, aber ein solches Risiko war der Job hier einfach nicht wert. Oder etwa doch? Eigentlich wirkte Cyril auf mich nicht wie jemand, der aus reiner Verzweiflung hier arbeitete. Eher wie ein gebildeter junger Mann aus bürgerlicher Familie, der eine ehrenhafte Anstellung in einem wohlhabenden Herrenhaus anstrebte. Solche hatten wir einige in der Dienerschaft, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuschte, obwohl manche auch Jungen vom Land waren die von ihren Eltern in die Städte geschickt wurden um 'etwas aus sich zu machen'. Nur, warum hatte Cyril dann als Stallbursche angefangen statt einfach seine Zeugnisse vorzulegen und direkt ins Haus zu kommen? Ich nahm mir vor, ihn demnächst einmal danach zu fragen. So etwas sollte ich als Tochter des Hausherren schließlich wissen, und es hatte auch ganz bestimmt überhaupt nichts mit meiner persönlichen Neugier Cyril gegenüber zu tun, dass mich diese Dinge interessierten.
Ein zögerliches Klopfen an der Tür beendete meine Grübeleien, und ein Diener informierte meinen Bruder höflich, dass er Besuch habe. Clemence schien davon im Gegensatz zu mir nicht sonderlich überrascht, was darauf schließen ließ, dass es sich um eine geschäftliche Angelegenheit handelte. Ein letzter kühler Blick, dann verließ er mit großen, entschlossenen Schritten den Raum. Ich seufzte leise als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, mit einem Mal erschöpft von all den Ereignissen dieses Nachmittages. Einen kurzen Moment lang erlaubte ich mir meine Augen zu schließen, obwohl mich gleichzeitig die Stimme der Vernunft davor warnte, jetzt schon Schwäche zu zeigen. Cyril war schließlich noch immer anwesend, und egal wie vertraut wir zuvor miteinander gesprochen hatten, so musste ich mich dennoch auch ihm gegenüber standesgemäß verhalten. Am liebsten hätte ich nochmals frustriert geseufzt, unterdrückte das Verlangen jedoch. 'Sei perfekt', befahl ich mir selbst, bevor ich die Augen wieder öffnete um Cyril zwar freundlich, aber distanziert zu seiner neuen Position zu beglückwünschen.
Die Worte blieben mir im Hals stecken.
Er sah furchtbar aus, und trotz des Lächelns auf seinem leichenblassen Gesicht war es offensichtlich, dass es ihm nicht gut ging. Wie hatte sich sein Zustand bloß so schnell verschlechtern können? Und wieso war mir nichts davon schon vorher aufgefallen?
"Schon in Ordnung, nicht der Rede wert", brachte ich mechanisch hervor, als sich Cyril jetzt noch einmal bei mir bedankte. Nur wofür? Er sah aus als würde er jeden Moment vom Sofa fallen, obwohl er sich bereits an der Seitenlehne abstützte. Immer stärker drängte sich mir die Befürchtung auf, einen großen Fehler gemacht zu haben, denn so wie es im Moment aussah hatte meine Intervention Cyril kein bisschen geholfen, sondern nur dazu geführt, dass er in nur zwei Tagen wieder arbeiten musste - egal in welchem Zustand. Himmel, wieso hatte ich nicht einfach meinen Mund halten können? "Ich, was...? Mein Bruder? Ich glaube nicht, dass er... Ich meine, er wird dich bestimmt ziemlich genau im Auge behalten, aber wie- wie kommst du darauf, dass ich...?"Toll, ganz toll; einfach hervorragend. Jetzt schaffte ich es nicht einmal mehr vollständige Sätze herauszubringen. Während ein weit entfernter Teil meines Gehirns noch damit beschäftigt war zu überlegen, was Cyril wohl damit gemeint haben könnte, ich solle aufpassen, lag meine gesamte Aufmerksamkeit auf dem jungen Mann vor mir. Mittlerweile konnte ich kaum noch verstehen was er sagte, und obwohl ich ihn direkt ansah schienen seine Augen sich nicht mehr so recht fokussieren zu wollen. Fast wünschte ich Clemence wäre nicht gegangen, aber wahrscheinlich wäre er auch keine große Hilfe gewesen. 'Sei perfekt', hörte ich ihn beinahe noch einmal sagen - und warf im nächsten Moment alle Vorsätze zum Thema standesgemäßes Verhalten über Bord.
"Ich gehe nirgendwo hin, solange ich Angst haben muss, dass du umkippst während ich weg bin. Wieso hast du bloß nicht eher was gesagt? Schau mich an", befahl ich, und fasste Cyril an den Schultern um ihn zu stabilisieren. Da dies aber bereits die Rückenlehne für mich übernahm, umfasste ich stattdessen seine Wangen um ihn zu zwingen, mich anzusehen. Ich erwartete fest, dass Admiral mich anknurren würde, weil ich seinem Herrn zu nahekam, aber falls er es tat, dann nicht laut genug als dass ich es hätte hören können. Ganz offensichtlich machte er sich ebenfalls große Sorgen.
"Cyril? Wage es ja nicht noch einmal das Bewusstsein zu verlieren. Bitte, ich...ich bin kein Arzt und ich habe keine Ahnung, wie ich dir helfen soll, wenn du nicht wach bleibst."
Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, aber ich wusste, dass das eine denkbar schlechte Idee war und unterdrückte den Impuls. Aber was konnte ich sonst tun, abgesehen davon mich in dem gänzlich unpassenden Gedanken zu verlieren, dass ich vermutlich noch keinem Mann zuvor so nahegekommen war? Und... bildete ich mir das bloß ein, oder fühlte er sich wärmer an als erwartet?"Nicht wegsehen, nicht einschlafen! Ich mag deine Augen, aber sie gefallen mir noch viel besser, wenn sie offen sind. Du bist jetzt ein Diener dieses Hauses, hörst du? Also musst du tun was immer ich sage, und ich verbiete dir die Augen zu schließen!"
Mein ganzes Leben lang hatte ich nichts weiter tun müssen als Befehle auszusprechen, um mich aus schwierigen oder verzweifelten Situationen zu befreien - vermutlich deshalb griff mein überforderter Verstand nun auf diese Möglichkeit zurück. Über die Tatsache, dass dies hier möglicherweise nicht funktionieren könnte, wollte ich lieber gar nicht erst nachdenken.

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Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...