„Cy, kommst du?", ertönte eine fröhliche Stimme und Liz streckte ihre Hand nach mir aus. Ich ergriff ihre Hand und ließ mich von ihr mitziehen. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass es völlig unmöglich war, dass das Mädchen vor mir meine Schwester Liz war. „Aber Liz, bist du nicht tot?", fragte ich verwundert nach, woraufhin das junge Mädchen ihre Schritte verlangsamte und schließlich stehenblieb. Mit traurigem Blick sah sie mich an und nickte dann schließlich leicht. „Es tut mir leid Cy, ich wollte dich niemals im Stich lassen!" Ihre dünnen Arme schlangen sich um meinen Körper und ich drückte sie an mich. Wie sehr hatte ich sie doch vermisst. „Nein, Liz- ich habe dich im Stich gelassen. Ich hätte mich noch viel mehr bemühen müssen um an die Medikamente für dich zu kommen...", meinte ich voller Verzweiflung in der Stimme. „Schon in Ordnung, geliebter Bruder, du hast dein Bestes getan und jetzt ist es an mir das Beste zu tun, damit du weiterleben kannst!", meinte Liz sanft. Sie löste sich von mir und deutete hinter mich. Ich drehte mich um und musste voller Schrecken feststellen, dass dort nichts als Finsternis lauerte, welche immer näherkam. „Das ist der Tod und er versucht dich gerade in seine Finger zu bekommen. Er ist nahe davor dich zu erreichen, aber das werde ich nicht zulassen, ich werde dich beschützen!", versprach Elizabeth mir. Sie ergriff wieder meine Hand und zog mich mit sich mit, immer weiter von der Finsternis weg. „Es gibt so vieles, was ich dich fragen möchte, so vieles, was ich dir erzählen möchte...", meinte ich leise, während ich versuchte mit ihr Schritt zu halten. Liz lächelte mich sanft an. „Wir werden uns eines Tages wiedersehen, aber noch ist deine Zeit nicht gekommen. Es ist deine Aufgabe noch viele andere Menschen zu beschützen und Leben zu verändern. Kämpfe weiter für das, was du glaubst, Cy!"
Wir kamen vor einem gleißend hellen Licht zum Stehen. „Weiter kann ich nicht gehen. Du bist wieder auf dich allein gestellt...", meinte Liz leise. „Ich wünschte ich könnte mit dir gehen, aber vergiss nie, dass ich für immer in deinem Herzen für dich da bin!" Ich nickte und zog sie noch einmal in einer Umarmung an mich. „Ich liebe dich, Schwesterherz!" „Ich liebe dich auch, Cy!" Wir lösten uns voneinander und betrachteten stumm. Keiner wollte den anderen wirklich gehen lassen, erneut von dem anderen getrennt werden, aber wir wussten beide, dass es sein musste. Die Finsternis kam immer näher und drohte bald uns beide zu verschlingen. „Lebe wohl, Cy!", meinte meine Zwillingsschwester mit sanfter Stimme, dann gab sie mir einen Schubs und ich fiel in das grelle Licht. „Liz! Nein!", rief ich entsetzt und versuchte verzweifelt zu ihr zurückzukehren, doch jeder Weg war mir versperrt. Mein Leben war noch nicht beendet.
„Wieso? Wieso riskierst du dein Leben für uns? Du kennst uns doch überhaupt nicht. Wieso?" Eine leise Stimme durchbrach den Schleier, welcher meine Gedanken eingehüllt hatte. „Liz!", brachte ich leise hervor, dann versank ich erneut in einer Ohnmacht.
Als ich das nächste Mal mein Bewusstsein wiederfand, schaffte ich es leicht meine Augen zu öffnen. Mein Kopf schmerzte höllisch und ich brauchte einen Moment, um mich überhaupt zu besinnen, wer ich war. Wo ich war konnte ich selbst mit klarerem Verstand nicht feststellen. Nach und nach strömten aber die vergangenen Ereignisse wieder auf mich ein und ich stellte fest, dass die höllischen Schmerzen an meinem Kopf wohl durch die Hufe von Adrians Pferd entstanden waren. Ein fremder Mann hatte sich über mich gebeugt und lächelte mich nun an, als er feststellte, dass ich wach war. Wie viel zeit wohl vergangen war? Der Arzt wandte sich um und teilte irgendeiner Person mit, dass ich wach war und es wohl auch überleben würde, dann schickte er alle anderen Personen aus dem Raum und kümmerte sich wieder um mich. Er flößte mir irgendeine Flüssigkeit ein, woraufhin die Schmerzen etwas nachließen und begann dann meine Stirnwunde zu versorgen. Zwischendurch flößte er mir immer wieder etwas von der Flüssigkeit ein und ich ließ jede der Behandlungen widerstandslos über mich ergehen.
Es wunderte mich zwar, dass sich ein richtiger Arzt um mich kümmerte- dieser musste wohl eigentlich für das Wohlergehen der Familie Leighton zuständig sein und definitiv nicht für die Verletzungen eines einfachen Angestellten. Ob das bedeutete, dass ich etwas in der Anerkennung der Familie gestiegen war? Wenigstens ein kleiner Fortschritt, das war doch schonmal nicht schlecht. Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. Eleanor hatte ich gerettet, weil ich sie in dem Moment einfach nicht Sterben lassen konnte, auch wenn ich nicht wusste warum- vielleicht hatte sie mich an Liz erinnert. Sie waren sich in ein, zwei Dingen ähnlich, auch wen ich Eleanor ja kaum kannte. Und Adrian- am Anfang hatte ich ihn in Aussicht auf einen kleinen Aufstieg retten wollen, aber das hatte sich rasch geändert, als ich in ihm die zahlreichen Waisenkinder erkannte, welche ich retten wollte. Ich hatte ihn ebenso wenig sterben lassen können. Ich hatte ihn beschützen müssen. So unausstehlich er auch war, er war trotzdem noch ein Kind. Und da spielte es keine Rolle, dass ich die Familie bestehlen wollte- in dem Moment ging es nicht mehr um meinen Coup.
Der Arzt war schließlich fertig und nickte mir noch einmal kurz freundlich zu, ehe er das Zimmer verließ. Ich vernahm seine Stimme von vor der Tür und wie er irgendjemandem mitteilte, dass er oder sie jetzt in den Raum konnte. Die Tür öffnete sich und kurz darauf ertönten sowohl Schritte, als auch ein leises Tapsen. Eine warme Zunge begann meine herabhängende Hand zu lecken und entlockte mir ein Lachen. „Admiral, alles in Ordnung, mir geht es gut!"
Die Schritte hatten wie von einer jungen Frau geklungen und ich fragte mich, ob es sich wohl um Lady Eleanor handelte. Ich konnte meinen Kopf nicht drehen, weil schon die leiseste Bewegung höllische Schmerzen verursachte.
„Um ihre Fragen von zuvor zu beantworten: Ich tat es, weil es in diesem Moment richtig war!", sagte ich dann zu der unbekannten Person, in der Annahme, dass es sich dabei tatsächlich um Eleanor handelte. „Ich rettete sie, weil sie mich an meine Schwester erinnerten und weil ich sie noch nicht gut genug kennengelernt habe, um mir ein Urteil über sie bilden zu können und somit festzustellen, ob sie es wert sind ihr Leben zu retten oder nicht- lieber rette ich jetzt ihr Leben und bereue es später, als es jetzt schon zu bereuen, weil ich ihr Leben eben nicht gerettet habe, ohne sie jemals besser kennengelernt zu haben. Und ich rettete ihren Bruder, weil ich weiß, wie es ist, wenn man jemanden aus der Familie verliert. Meine Zwillingsschwester starb und ich konnte sie nicht retten. Ich wollte nicht, dass sie das gleiche durchleben müssen, wie ich damals. Außerdem ist er noch ein Junge. Er hat sein ganzes Leben noch vor sich, um Gutes zu bewirken. Er sollte noch nicht jetzt sterben. Wissen sie, es ist mit meinem Stand nicht gerade leicht, anderen zu helfen, aber ich versuche es, weil ich die Welt ein kleines bisschen besser machen möchte. Wie könnte ich da jemanden guten Gewissens sterben lassen, egal von welchem Stand diese Person ist? Hätte ich euch beide sterben lassen, hätte ich mir selbst nicht mehr entgegentreten können, denn dann hätte ich jämmerlich versagt." Ich wusste selbst nicht, warum ich gerade so ehrlich zu dieser mir völlig fremden Person war, die es vermutlich nicht mal interessierte, weil ich in ihren Augen nur ein einfacher Angestellter war, aber es fühlte sich wohl auch das gerade einfach richtig an. Diese Ehrlichkeit.
„Außerdem wäre meine Entlassung wohl noch das mindeste Übel gewesen, was ich hätte erdulden müssen, wenn ich sie beide nicht gerettet hätte... vermutlich wäre ich nicht mit dem Leben davongekommen, weil es ja irgendwie meine Schuld war!", scherzte ich dann und musste lachen, auch wenn es wohl die Wahrheit war. Trotzdem war das nicht der Grund gewesen, warum ich Adrian und Eleanor gerettet hatte, sondern eben jener, den ich der Lady genannt hatte.

DU LIEST GERADE
Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...