18_Eleanor Joan Leighton

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So langsam wie nur irgendwie möglich bewegte ich mich auf die Tür zu, obwohl ich wusste, dass ich es nicht ewig würde hinauszögern können. Zum einen ließ ich Cyril nur ungern mit meinem Bruder allein - Clemence konnte einen in den Wahnsinn treiben, selbst wenn man ihn gut kannte. Wie kalt und herzlos musste seine stets perfekte, beherrschte Art da auf jemanden wirken, der ihm noch nie zuvor begegnet war? Gleichzeitig graute mir aber auch davor, Vater von den Ereignissen dieses Nachmittages erzählen zu müssen und ihn anschließend auf welche Art auch immer davon zu überzeugen, Cyril bleiben zu lassen. Dieser Teil würde vermutlich gar nicht mal so schwierig werden, wenn ich es richtig anstellte - schlimmer war, danach Clemence gegenüber zu treten. Er würde es als Verrat ansehen, aber nicht zuletzt auch als Beleidigung seiner Autorität, und im Grunde genommen hätte er damit nicht einmal so Unrecht. Es war absolut lächerlich von mir diese seltsame Mischung aus Dankbarkeit und Schuldgefühlen, die ich Cyril gegenüber emfand so von meinem logischen Verstand Besitz ergreifen zu lassen. Es war unangemessen. Es war dumm. Und doch konnte ich es nicht abstellen, denn da war auch noch etwas anderes, das ich bisher kaum wahrgenommen hatte: das Gespräch mit ihm war ungezwungen gewesen und so von gegenseitiger Ehrlichkeit geprägt, dass es mich beinahe erschreckte. Für gewöhnlich musste ich stets darauf achten mit wem ich sprach und wie ich mich dabei zu verhalten hatte, was ich sagen durfte, was nicht, und wie ich es sagte. Nicht selten kam es mir vor, als könnte ich vor niemandem offen sprechen; häufig nicht einmal vor meiner Familie.

Unerwartet vernahm ich einen leisen Schmerzenslaut hinter mir und drehte mich um. Cyril war trotz seiner Verletzung aufgestanden, und während ich mich noch fragte ob er den Verstand verloren hatte, kniete er sich vor meinem Bruder auf den Boden. Ungläubig hörte ich zu während er mit allen Mitteln darum kämpfte, seinen Job hier behalten zu können. Dass er seine Gesundheit aufs Spiel setzte war ihm dabei wahrscheinlich ebenso bewusst wie mir, und doch klang er vollkommen entschlossen. Er musste tatsächlich verrückt sein. Wirklich, das konnte er doch unmöglich ernst -

"In zwei Tagen. Ist das so, ja?"

Clemence' Stimme war wie immer kühl, vielleicht sogar ein wenig amüsiert. Sicherlich wusste er, dass Cyril in diesem Augenblick ein enormes Gesundheitsrisiko einging. Die beiden jungen Männer standen sich mittlerweile aufrecht gegenüber, wobei ich feststellte, dass sie bis auf wenige Zentimeter beinahe gleich groß waren. Und auch altersmäßig schienen sie nicht sehr weit auseinander zu sein, obwohl ich Cyril's Alter nur schätzen konnte. Sie musterten einander, der Stallknecht und der Adelige; halb abwartend, halb feindselig. Admiral stand wieder neben Cyril, was mich unwillkürlich daran denken ließ wie gefährlich der Mischling sein konnte, wenn er die richtigen Befehle erhielt. Bei der Erinnerung daran wie bedrohlich er zuvor ausgesehen hatte, lief mir ein leichter Schauer über den Rücken obwohl ich versuchte, diesen zu unterdrücken. Dass man sich in London besser nicht allein aufhielt war mir bewusst, aber dass die Straßen mittlerweile so unsicher geworden waren...? Verwirrt und verärgert über mich selbst schüttelte ich leicht den Kopf, bevor ich diesen Gedanken noch weiterführen und mich damit noch mehr ablenken konnte.

"Du meinst also, für unsere Familie von so außerordentlichem Nutzen zu sein, dass ich dir noch eine Chance gewähren sollte", beendete Clemence jetzt auch die angespannte Stille. "Nun, vielleicht ist es dir bisher nicht aufgefallen, aber wir haben ein ganzes Arsenal von Dienern im Haus, von denen nicht wenige bereits seit Jahren hier arbeiten. Ich wüsste nicht, an welcher Stelle wir da Bedarf für jemanden hätten, dessen Fähigkeiten ganz sicher nicht im Bereich der Etikette liegen - obwohl ich deinen Ehrgeiz durchaus wertschätze."

In seiner Stimme klang kein offener Hohn, aber es war dennoch deutlich erkennbar, dass er sich seiner überlegenen Position bewusst war. Nur mit dem Unterschied, dass er dies nicht ganz so sehr genoss wie beispielsweise Adrian es vielleicht getan hätte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er, trotz seiner abweisenden Worte über Cyril's Aussage nachzudenken schien. Oder irrte ich mich? Nein. Ich kannte meinen Bruder und hinter seiner Maske erkannte ich, dass er zwar noch skeptisch war aber die möglichen Vorteile zumindest in Erwägung zog. Vielleicht gab es ja tatsächlich einen Weg ihn noch umzustimmen, der nicht damit endete, dass Cyril wieder im Stall arbeiten musste. Es war so schon riskant genug, ihn nur zwei Tage ausruhen zu lassen.
Langsam trat ich von der Tür zurück, während ich gleichzeitig versuchte sämtliche Emotionen von meinem Gesicht zu verbannen. Es war an der Zeit, dass ich wieder zu der Person zurückfand, die ich eigentlich sein sollte, denn Clemence schätzte Professionalität und Logik mehr als alles andere - vermutlich auch deshalb hatte ihn Cyril's entschlossene Ansprache nicht gänzlich kalt gelassen. Wer zu ihm durchdringen wollte, musste sich seinem hohen Standard anpassen.
"Wieso denn eigentlich nicht? Wenn er sich unbedingt beweisen will kann uns das im Grunde nur Vorteile bringen", schlug ich jetzt vor, wobei ich mich um eine ebenso kühle Ruhe bemühte wie mein Bruder sie ausstrahlte. Dieses Mal hielt ich seinem ärgerlichen Blick nicht nur stand, sondern sprach ungerührt weiter. "Ein Stallbursche der zum Hausdiener aufsteigt - ein Ding der Unmöglichkeit, keine Frage. Aber was meinst du wohl, wie die restliche Dienerschaft darauf reagieren würde?"

Einen Moment lang sah mich nur schweigend an. Mein Spiegelbild beinahe, obwohl seine Haare mehr hellbraun als blond waren und seine Augen von einem dunklen blau; wie die unserer Mutter, doch kälter. "Härtere Arbeit", murmelte er dann halblaut, jedoch ohne ein äußeres Zeichen, das seine Gefühle dabei verraten hätte.

"Ganz genau", bestätigte ich mit leisem Triumph, als würde es mir tatsächlich nur darum gehen, die Arbeitsmoral im Haus zu verbessern. Was zwar nicht stimmte, aber vielleicht kaufte er es mir ja dennoch ab, wenn ich mich nur 'standesgemäß' genug verhielt. "Kein vernünftiger Hausdiener wird sich von einem Stallburschen übertreffen lassen wollen, und alle anderen werden glauben, sie könnten ebenfalls einen so skandalös enormen Aufstieg schaffen, wenn sie sich nur genug anstrengen."

Clemence nickte ein paarmal fast unmerklich, wobei er Cyril fixierte wie ein Löwe. Ein überaus beherrschter, kalkulierender Löwe. "Mal angenommen, ich würde dem tatsächlich zustimmen, könnte ich selbstverständlich davon ausgehen, dass du am härtesten von allen arbeitest, nicht wahr? Immerhin hast du einen massiven Mangel an Manieren auszugleichen." Noch immer musterte er Cyril abschätzend, so als wollte er sich jeden Zentimeter seiner Erscheinung genau einprägen. Der Grund dafür war recht simpel; auf den meisten Anwesen wurden bevorzugt große, gutaussehende Diener eingestellt, da man mit diesen recht häufig in Kontakt kam. Außerdem kümmerten sie sich meist um Gäste - eine Art Prestigeobjekt in menschlicher Form also. Cyril, mit seiner hoch gewachsenen Statur und den dunklen Locken, dessen Farbe ich selbst bei genauerer Betrachtung nicht ganz zwischen braun und schwarz definieren konnte, passte hervorragend in dieses Bild. Zweifellos würde ihm die Livree unseres Hauspersonals gut stehen, schoss es mir ungewollt durch den Kopf; obwohl ich diesen Gedanken wohl besser nicht laut aussprechen sollte wenn ich meinen Bruder nicht augenblicklich erneut verärgern wollte.
"Also gut", stellte Clemence nun jedoch auch selbst fest. "Vielleicht bist du wirklich zu etwas zu gebrauchen - wir werden sehen. Aber mach dir keine Illusionen, dies ist kein Geschenk. Ich erwarte absolute Perfektion und alles darüber hinaus."

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