Der logische Teil meines Gehirns wusste, dass ich sehr wahrscheinlich unter Schock stand, aber der andere Teil hatte aus reinem Selbstschutz längst aufgehört zu funktionieren. Es war alles viel zu schnell passiert, als dass ich es hätte verarbeiten können, und erst jetzt schienen die letzten Minuten noch einmal langsamer an mir vorbeizuziehen. Jetzt, da ich mit meinem Bruder fest im Arm gegen die Tränen kämpfte, während unser beider Retter bewusstlos neben uns lag und auf den penibel gepflegten Rasen blutete. Viel zu spät...
Vorhin im Stall war mir bestenfalls vage bewusst gewesen, dass der durchgehende Hengst für mich eine ebenso große Gefahr darstellte wie für Adrian, aber ich hätte mich ohnehin nicht bewegen können. Stattdessen hatte ich wie angewurzelt dagestanden und auf die Katastrophe gewartet, bis Cyril mich am Arm gepackt und aus der Bahn des lospreschenden Pferdes gezogen hatte. Mir war erst in jenem Moment klargeworden, dass er es war, aber bis ich mein wild klopfendes Herz beruhigt und meine Stimme wiedergefunden hatte um ihm zu danken, war er längst aufgesprungen und auf dem Rücken eines mir durchaus bekannten Pferdes aus dem Stall galoppiert. Ich dagegen war noch immer wie gelähmt gewesen und meine ängstlichen Gedanken waren vollkommen auf meinen Bruder fixiert. Matt, der Sohn des Stallmeisters, hatte mir auf- und nach draußen geholfen, wo wir beide machtlos hatten zusehen müssen, wie Adrian immer weiter von seinem Pferd rutschte, während Cyril in einer selbstmörderischen, aber ebenso selbstlosen Aktion versuchte das Tier zu beruhigen. Matt hatte zunächst versucht mich festzuhalten als ich verzweifelt und blindlings losrennen wollte, obwohl ich gewusst hatte, dass ich nichts tun konnte. Als jedoch Adrian schließlich endgültig vom Pferd gestürzt und Cyril von dem seinen abgestiegen war, hatte auch Matt alle Vernunft in den Wind geschlagen.
Wir waren beide gerannt wie wahrscheinlich noch niemals zuvor, aber mir war dennoch schmerzhaft bewusst gewesen, dass ich zu spät kommen würde. Diese furchtbare Gewissheit brachte mich jetzt noch aus der Fassung, und wieder fühlte ich mich als müsste mein Herz jeden Moment stehen bleiben. Denn weder Matt noch ich waren schnell genug gewesen um zu verhindern, dass der Hengst erneut stieg. Und als ich schließlich - endlich! - neben meinem kleinen Bruder zu Boden gefallen war, war dieser zwar wie durch ein Wunder nicht sehr schwer verletzt, Cyril jedoch...
"Er ist verrückt. Er ist verrückt. Er-" ,murmelte Adrian vor sich hin, abwesender als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Er starrte mit großen Augen umher, aber es war unmöglich zu deuten ob er Cyril oder das Pferd meinte, welches sich mittlerweile wieder beruhigt hatte.
Allmählich kehrte ich in die Wirklichkeit zurück. Wir waren nicht unbemerkt geblieben; von den Ställen her näherten sich bereits weitere Angestellte. Irgendjemand würde ihnen sagen müssen was zu tun war, richtig? Jemand musste alles wieder in Ordnung bringen. Vor allem aber musste dafür gesorgt werden, dass Cyril von einen Arzt bekam. Ich zwang mich, tief durchzuatmen. Das war jetzt meine Aufgabe, nicht wahr? Egal was passierte, oder wie es mir dabei ging, ich musste mich stets zusammenreißen, Verantwortung übernehmen. So hatte man es mir beigebracht.
Langsam, ganz so als würde ich mich von irgendwo außerhalb meines Körpers dabei beobachten, brachte ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle, wischte die wenigen Tränen ab, die es geschafft hatten mir über die Wangen zu laufen und stand anschließend vorsichtig auf. Meine Stimme klang fremdartig ruhig als ich meine Anweisungen an die herbeigeeilten Angestellten verteilte, welche auch sofort ausgeführt wurden, obwohl ihnen allen sowohl Furcht als auch Neugier in die Gesichter geschrieben stand. Ich selbst führte die seltsame kleine Prozession an, die sich in Richtung Herrenhaus bewegte; abgesehen von mir bestehend aus zwei kräftigen Stallburschen, die Cyril auf einer improvisierten Trage schleppten, Matt, der neben der Trage lief, und Adrian, der noch immer blass und teilnahmslos hinter mir herstolperte. Irgendetwas war mit ihm definitiv nicht in Ordnung. Er hatte bisher weder geflucht oder jemanden beleidigt noch meine Hand losgelassen, jedoch hoffte ich inständig dass nur der Schock daran Schuld war. Äußerlich hatte er kaum mehr als ein paar Kratzer und blaue Flecken davongetragen, was mich unendlich erleichterte. Alles dank eines jungen Mannes, der kaum zwei Wochen hier arbeitete und doch so unglaublich unvernünftig, aber gleichzeitig auch so unglaublich mutig gewesen war, ihn aus der Gefahrenzone zu ziehen."Bringt ihn in die Bibliothek", wies ich die beiden Träger an, denn dieser Raum befand sich in der Nähe der Galerie und war zudem ohne Treppen zu erreichen, sowie zur Genüge mit Sofas ausgestattet. Aber vor allem, obwohl ich diesen Gedanken ganz bestimmt niemandem verraten würde, befand sich dort das Porträt meiner Mutter, von dem ich hoffte, es würde mir die Kraft verleihen, die ich gerade so dringend brauchte. Möglicherweise half es ja wirklich, denn immerhin funktionierte ich noch genug, um einige Hausmädchen auf die Suche nach sauberen Tüchern und Wasser zu schicken, andere in die Galerie, sodass sie den Arzt augenblicklich zu uns bringen konnten, wenn er ankam. Es gelang mir sogar Adrian von mir zu lösen, wenngleich ich es ungern tat, und ihn mit liebevoller Gewalt in einen Sessel zu verfrachten. Zumindest nahm sein Gesicht langsam wieder eine gesündere Farbe an. Ganz im Gegensatz zu Cyril, dessen reglose Gestalt fehl am Platz wirkte inmitten dieses riesigen Raumes. Sein Anblick machte mir Angst.
"Wieso?" , brach es schließlich aus mir heraus, als die Stille unerträglich wurde, aber natürlich erhielt ich keine Antwort. "Wieso riskierst du dein Leben für uns?" Denn das hatte er, und es war allein seinem Einsatz zu verdanken, dass weder Adrian noch mir schlimmeres passiert war. Vater würde durchdrehen wenn er davon erfuhr. "Du kennst uns doch überhaupt nicht. Wieso?"
Wie konnten wir jemals hoffen diese Schuld wieder auszugleichen, falls er aufwachte? Wenn er aufwachte. Das musste er. Allein der Gedanke, dass er es nicht tun könnte reduzierte meine Stimme zu einem heiseren Flüstern.

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Dollhouse
RomansaEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...