Ich bemerkte zunächst nur aus dem Augenwinkel, dass Cyril aufgestanden war und sich nun langsam auf mich zubewegte. In etwa so, wie man sich einem angeschossenen Tier nähern würde um es nicht zu verschrecken, bevor man es mit der Klinge erlöste. Er wirkte dabei zwar weniger bedrohlich und blieb sogar ein wenig entfernt bereits stehen, aber mit Admiral neben ihm hätte er ebenso gut ein Jäger sein können, der den Blick seiner Beute festhielt und sie am Fliehen hinderte. Nur ein Messer hatte er nicht, aber das war auch gar nicht nötig - seine Worte reichten vollkommen, um mich zum Schweigen zu bringen.
Ich habe Sie geküsst.
Langsam, sehr, sehr langsam breitete sich ein Gefühl des Grauens in mir aus. Er wusste es. Ich konnte nicht einmal sagen, warum dieser Gedanke mich so sehr erschreckte - für Cyril wären die Konsequenzen viel schlimmer als für mich. Aber dennoch.. Woher? Wie? Was hatte ich getan, um es zu verraten? Ich wollte protestieren, aber kein Laut kam über meine Lippen. Es hätte ohnehin nichts gebracht. Er wusste es wieder, nein, er hatte erraten was passiert war und nun würde er es mich nicht länger leugnen lassen.
Eine Geste. Eine einzige unbedachte Bewegung hatte mich verraten, gerade als ich geglaubt hatte das Geheimnis sei sicher. Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können? Wieso nur fiel es mir so furchtbar leicht, in Cyrils Gegenwart nicht ständig auf der Hut zu sein? Vielleicht lag es daran, dass er sich ebenfalls nicht verstellte. Was er zuvor gesagt hatte - es war beinahe, als wüsste er dass ich mich genau danach sehnte. Nach jemandem, der keine Angst davor hatte ab und an die Regeln zu brechen, statt nur nachzuplappern was der Anstand verlangte. Und nach jemandem, der mir erlauben würde mich fallen zu lassen. Oder wenigstens nichts verheimlichen zu müssen. Ganz kurz nur, für einen kleinen Moment.
Cyril lächelte jetzt während er weitersprach, fast als hätte er meine Gedanken erraten, aber natürlich war das nicht der Grund. Es war ein Lächeln das mir erneut die Röte ins Gesicht trieb, obwohl daran ebenso gut seine Worte schuld sein konnten. Oder seine Nähe. Wie in einem Déjà-vu sah ich ihn immer näher kommen, ohne dass ich die Kraft oder den Willen gehabt hätte etwas daran zu ändern. Mein Herz schlug so heftig dass es beinahe wehtat, und meine Stimme trug noch immer kein einziges Wort nach außen. Doch selbst wenn hätte ich nicht gewusst, was ich sagen sollte. Dass es stimmte, etwa? Dass der erste Kuss mir zwar Angst gemacht hatte weil er so unerwartet geschehen war, aber dass sich ein kleiner, verräterischer Teil meiner selbst dennoch fragte wie es sein würde, wenn es noch einmal passierte?
Nein. Nein, das würde er nicht von mir hören. Seinem Lächeln nach zu urteilen wusste er es ohnehin schon, oder konnte es sich zumindest denken. Eine Ohrfeige wäre wohl eher angebracht, schon allein des Anstands wegen. Eine Ohrfeige und ein lauter Ruf nach den Wachen, aber mittlerweile war uns wahrscheinlich beiden bewusst, dass ich auch das nicht tun würde. Nun, vielleicht hätte ich ihn geschlagen, hätte ich die Kraft dazu gefunden, aber mein Körper verweigerte mir so vollkommen den Dienst dass ich es nicht einmal schaffte die Hand zu heben.
Er kam jetzt noch näher, bis ich seine warmen Hände auf meinen Wangen spürte. War das erneut dem Fieber geschuldet, oder fühlte er sich immer so an? Ich würde es gern herausfinden, schoss es mir durch den Kopf, während ich mich gleichzeitig für den ungebetenen Gedanken verfluchte. Wieso konnte ich es nicht? Er wäre nicht der erste Mann den ich zurückwies, auch wenn die anderen Herren sich bisher ausnahmslos angemessener benommen hatten. Lag es daran? Dass es bisher noch keiner gewagt hatte, sich mir so zu nähern wie Cyril es jetzt tat?
Sie dürfen sich nehmen, was auch immer Sie wollen.
Erst jetzt brach der Zauber; befreite meine gelähmte Zunge, sodass ich ein bitteres Lachen hervorbringen konnte. "Überhaupt nichts darf ich nehmen."
Das glaubte er wohl. Sicher, ich führte ein privilegiertes Leben; eines, für das die meisten eine Menge hergeben würden. Aber mit den Privilegien kamen auch Erwartungen und Pflichten, und vor denen gab es kein Entkommen. Davon abgesehen war ich unverheiratet, noch nicht einmal verlobt, auch wenn ich das unangenehme Gefühl hatte dass sich das in nicht allzu ferner Zukunft ändern sollte, wenn es nach meinem Bruder ging. Affären und andere Arrangements waren für gewöhnlich den verheirateten Damen vorbehalten, solange sie diese Treffen geheim hielten. Eine Frau allerdings, welche sich aus reiner Neugier oder was immer es sonst war, das mir den Atem stocken ließ, einem Mann an den Hals warf - noch dazu einem, dessen Stand ihrer Familie keinerlei Vorteile versprach? So eine hatte in der gehobenen Gesellschaft nichts verloren.
"Und du darfst dir ebenso wenig einfach nehmen, was immer du willst. Du bist ein Dieb, Cyril." ,sagte ich leise, obwohl meine Stimme mit jedem Wort an Kraft gewann. "Du magst dir meinen ersten Kuss gestohlen haben, aber ich versichere dir, einen zweiten wirst du nicht bekommen. Lieber falle ich auf der Stelle tot um!"
Ich sah zu ihm auf, aber er war zu nah. So konnte ich seinem Blick unmöglich standhalten. Nicht ohne mich zu fragen, ob er wirklich goldene Sprenkel in seinen Augen hatte, oder ob ich mir diese bloß einbildete. Ich versuchte vergeblich wegzusehen, aber es wollte mir nicht gelingen. Immer wieder drifteten meine Gedanken in Richtungen ab, mit denen ich ganz und gar nicht einverstanden war.
"Versuch' es noch einmal und ich werde schreien. Ist dir das Antwort genug? Niemand wird deine Version der Geschichte glauben, solltest du es wagen jemandem zu erzählen was passiert ist. Aber ich werde davon erfahren, selbst wenn es nicht lauter ist als das leiseste Flüstern, und dann lasse ich dich auf der Stelle aus dem Haus werfen!"
Lügen. Bedrohliche, wütend klingende Lügen, aber dennoch nichts weiter als leere Worte, die das Zittern meiner Stimme und meiner Hände mit Sicherheit verriet. Ich wusste nicht einmal, ob ich sie aus Ärger oder Verzweiflung aussprach. Vermutlich aus beiden Gründen gemeinsam, vermischt mit der Angst vor dem, was sein würde wenn niemand einen Einfluss auf mein Handeln hätte. Wenn ich alle Regeln einfach in den Wind schlagen könnte, statt irgendwann irgendeinen arroganten, rechthaberischen Herrn meines Standes zu heiraten und gelangweilt mein Dasein zu fristen. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber im Grunde lag Cyril ganz richtig damit, dass dieses perfekte Leben nichts weiter war als eine Fassade war. Vollkommen wertlos, solange es nicht wenigstens einen Menschen gab, der dahinter sehen konnte. Wie konnte ich es Leben nennen, wenn sich der Vorhang niemals schloss und ich die Maske kaum jemals ablegen durfte? Ich wachte oft genug zitternd und nach Luft schnappend auf, weil ich träumte in einem goldenen Käfig zu ersticken.
Cyril hatte Recht, und diese Tatsache war fast noch schlimmer als alles andere.
"Lass mich los." ,befahl ich. "Was immer du mit deinem Verhalten zu bezwecken versuchst, ich habe genug gehört. Es steht dir nicht zu, zu beurteilen was ich will oder nicht will, oder ob es mich glücklich machen wird das Leben zu führen, das mir zusteht. Ich komme bestens allein zurecht. Deshalb sage ich es noch einmal: Lass mich los."
Und doch hielt ich mich gleichzeitig an Cyrils Armen fest als wäre er meine letzte Rettung. Ich hatte Angst, dass er auch noch den letzten Rest meiner Selbstbeherrschung fortreißen könnte wenn ich ihn allzu schnell von mir stieß, denn dann würde er einen Blick auf das Mädchen dahinter erhaschen. Den Teil meiner Selbst, der in ihm die Hoffnung auf Freiheit sah, selbst wenn sie noch so klein war.

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Dollhouse
RomansaEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...