38_Eleanor Joan Leighton

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Angst, Erleichterung, Schock, Unsicherheit, Dankbarkeit - seit Cyril im Speisesaal aufgetaucht war gesellten sich immer mehr Emotionen auf einmal zu dem Chaos in meinem Kopf. Ich war auf ein mehr oder weniger ereignisloses Dinner vorbereitet gewesen, keinesfalls aber auf ein solches Gefühlschaos. Es war alles zu viel, zu intensiv und zu schnell als dass ich je hoffen könnte mitzuhalten. Da war in einer Sekunde Cyril's Hand in meiner, sowohl die leichte Berührung als auch seine Worte beruhigend und stabil in all dem Durcheinander, während er versprach, für mich da zu sein. Ich konnte gar nicht anders als zu Lächeln, während ich das Gefühl hatte ein riesiger Stein fiele von meinem Herzen. Kaum einen Augenblick später jedoch stand Cyril schon wieder und vollführte einen prekären Balanceakt auf dem Fensterbrett, wenige Millimeter nur davon entfernt, abzustürzen. Ich konnte gar nicht anders als den Atem anzuhalten, obwohl er mit einer solchen Selbstverständlichkeit dort stand als hätte er nie etwas anderes gemacht.

Mondlicht schimmerte auf seiner Haut. Er sah fast übermenschlich aus als er weiter nach oben kletterte um schließlich die Arme dem Himmel entgegen zu strecken. Wunderschön, aber unerreichbar. Er sah aus wie ein Wesen aus einer anderen Welt, und doch hatte ich gleichzeitig das Gefühl, dass er genau an diesem Ort richtig war. Nicht etwa in den eleganten Fluren des Anwesens oder den geheimen Passagen der Diener - nein, er gehörte genau hier her.

Für einen Moment war ich fast neidisch auf seine Freiheit und die Fähigkeit, so hoch zu klettern dass niemand mehr folgen konnte um zu befehlen, was man zu tun und zu lassen hatte. "Ich wünschte, das könnte ich." ,gab ich lächelnd zu als Cyril fragte, ob ich nicht mit ihm kommen wolle. Und das wollte ich wirklich, aber mir war ebenso bewusst, dass ich kaum den Mut hatte die Fensterkante loszulassen, geschweige denn aufzustehen. Stattdessen behielt ich jeden seiner Schritte genau im Auge, bis er sich schließlich wieder neben mich setzte. Im Gegensatz zu mir, die ich mich unsicher an der Kante festhielt, sah er deutlich entspannter dabei aus. Ganz so als hätte er schon tausende Male auf schmalen Fensterbrettern gesessen, während unter ihm der Abgrund lockte. Vermutlich war es wohl auch so, denn was mir so fremd und gefährlich erschien, war für ihn früher einmal Alltag gewesen.

Ich sah ihn an, sagte jedoch nichts während mir erneut bewusst wurde wie unterschiedlich unsere Lebensweisen waren. Und doch schien es, dass wir beide in der Gegenwart des jeweils anderen das selbe Gefühl der Vertrautheit erlebten. Ein kleines Grinsen huschte über mein Gesicht. Es war wohl nur fair, wenn ich mit der Zeit auch ein paar von Cyril's Geheimnissen entdeckte.

"Ich möchte keinesfalls, dass du dich von mir fernhältst. Das zumindest weiß ich sicher." ,sagte ich leise, obwohl es mir widerstrebte dies zuzugeben. "Wie gesagt, es gibt niemanden sonst mit dem ich so offen reden kann." Ich schlug die Augen nieder, wobei mein Blick mehr aus Zufall an Cyril's Medaillon hängenblieb, welches er jetzt in der Hand hielt. Normalerweise hing es eher unauffällig um seinen Hals, deshalb war es mir bisher nicht weiter aufgefallen. Ein Erinnerungsstück an seine Schwester vielleicht? Ich erinnerte mich vage an ein Gespräch das wir vor etwa drei Wochen geführt hatten, aber viel hatte er damals nicht erzählt. Nur, dass er sie vor langer Zeit verloren hatte.

Eine unbestimmte Traurigkeit überkam mich als Cyril weitersprach. Sicher, Menschen starben überall und zu jeder Zeit. Auch solche, die genügend Geld hatten um sich von den besten Ärzten behandeln zu lassen, wie ich aus eigener Erfahrung wusste. Aber nun da ich Cyril's Herkunft kannte, kam es mir umso furchtbarer vor dass seine Schwester auf diese Weise gestorben war. Nur weil sie sich die Medizin, die sie vielleicht hätte retten können nicht leisten konnte. Es war nicht fair! Die Welt selbst war einfach nicht fair in dieser Hinsicht, aber das machte die Dinge auch nicht besser.

"Ich habe es wohl schon einmal gesagt, aber dennoch: dein Verlust tut mir leid. Das war bestimmt nicht einfach." ,sagte ich vorsichtig, während ich Cyril leicht am Arm berührte. Ich war mir nicht sicher, ob diese Worte willkommen waren. Ich wünschte, ich hätte ihn eher getroffen; vielleicht hätte ich sogar helfen können, seiner Schwester die nötigen Medikamente zu besorgen. Aber diese Gedanken wagte ich nicht laut auszusprechen, denn selbst in meinem Kopf klangen sie bereits kaum mehr als anmaßend. Es war nicht zu leugnen: realistisch betrachtet hätte ich Cyril nie eines Blickes gewürdigt, wenn er mir je als Straßenjunge begegnet wäre. Wir hätten kein einziges Wort miteinander gesprochen, und noch viel weniger hätte ich ihm geholfen - mal ganz davon abgesehen, dass es sich für eine Dame ohnehin nicht gehörte allzu viel mit dem einfachen Volk zu verkehren.

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