Zu unserem Glück war es nicht Gracies Lehrer, oder, was noch schlimmer gewesen wäre, Mutter. Eigentlich konnte ich mich also entspannen, aber ich behielt dennoch eine aufrechte Haltung bei als die beiden Angestellten sich respektvoll verneigten und für ihre Anwesenheit entschuldigten. Nun, zumindest einer von ihnen tat das ohne zu Zögern - ich erkannte ihn als den Sohn des Stallmeisters; Matt. Der junge Mann in seiner Begleitung dagegen musste anscheinend erst daran erinnert werden was sich gehörte. Ich bedachte ihn mit einem kurzen, kühlen Blick, aber er kam mir nicht einmal ansatzweise bekannt vor. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und das sollte etwas heißen, denn eigentlich konnte ich mir zumindest die Namen und Gesichter der Dienstboten alle problemlos merken, auch wenn ich ihnen sonst kaum Beachtung schenkte. Gut vielleicht nicht alle, aber die wichtigsten schon, was darauf schließen ließ, dass Cyril - so hieß er also - keine wichtige Position innehatte. Oder gerade antrat, denn anscheinend war er neu hier. Angesichts seiner Manieren überraschte mich das kein bisschen - ganz offensichtlich hatte er in Sachen Anstand und Höflichkeit noch einiges zu lernen!
"Warum dürfen die Dienstboten eigentlich immer nur die geheimen Passagen benutzen?" , beschwerte sich Gracie als wir schließlich wieder allein in der Galerie waren, obwohl sie aus irgendeinem Grund trotzdem amüsiert aussah. "Das wäre doch viel lustiger!"
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sicherlich würde es dabei helfen, unseren Alltag etwas weniger monoton zu gestalten. Aber gleichzeitig würde es uns auch einmal mehr daran erinnern, wie sehr die gesellschaftliche Stellung uns kontrollierte. Wie abhängig und unselbstständig wir eigentlich waren, aufgrund unseres Standes und diesem goldenen Käfig, den wir unser Zuhause nannten. Als wäre das nicht schon offensichtlich genug. Eine Dame, die sich selbst ankleidete? Ihr eigenes Essen kochte oder gar aufräumte? Skandalös! Für solche banaIen Aufgaben gab es schließlich Diener. Nicht, dass ich das würde ändern wollen - im Gegenteil, ich war froh, mich um solche Dinge nicht kümmern zu müssen! Und doch war ich eigentlich nicht mehr als eine Gefangene. Zwar mit Einfluss und Rang und Reichtum im Überfluss, aber ohne Freiheit.
"Heey hörst du mir überhaupt zu Joanie? Ich habe gesagt: lass uns in den Garten gehen, da sucht Mr. Dawson mich ganz bestimmt nicht. Ohhh ich könnte dir eine Blumenkrone machen, Annie hat mir gezeigt wie das geht!"Hilflos lächelnd folgte ich meiner Schwester nach draußen - vollkommen zwecklos ihr ins Gewissen zu reden, damit sie nicht länger vor ihrem Lehrer davonlief. Nebenbei überlegte ich wie sie dazu kam, sich mit einem der Hausmädchen über Blumenkränze zu unterhalten, aber es sollte wohl keine große Überraschung sein. Gracie sah die Dienerschaft eher als Freunde denn als Angestellte, obwohl sie ihr eigentlich zu Gehorsam verpflichtet waren.
Chocolate lag nicht mehr an seinem Platz auf dem Geländer der Terrasse, als wir diese erreichten. Wahrscheinlich hatte er sich einen anderen Schlafplatz gesucht oder wanderte irgendwo durch das Haus oder den Garten. Vermutlich letzteres, denn zwischen den gepflegten Hecken und Büschen war gerade noch eine vierbeinige Gestalt zu erkennen, die sich mit der Nase am Boden in Richtung Haus bewegte. Eigentlich seltsam, denn der Kater trug seine Nase meist so selbstgefällig in die Luft gestreckt, dass man fast glauben könnte er sei der König persönlich. Außerdem war er deutlich kleiner als - war das etwa ein Hund?
Gracie hatte ihn ebenfalls entdeckt und hockte sich prompt auf den Boden, streckte eine Hand aus und rief leise, um das Tier anzulocken. Es war tatsächlich ein Hund. Streicheln ließ er sich nicht, wie Gracie schnell feststellte, aber er kam nah genug heran um zu sehen, dass es sich nicht etwa um einen entlaufenen Jagdhund handelte, sondern um einen streunenden Mischling. Wie war der denn bloß hier hereingekommen?"Meinst du wir bekommen ihn irgendwie in die Küche, ohne dass jemand etwas merkt?" , fragte Gracie zu meinem Schrecken auf einmal.
"Auf keinen Fall, nein! Wir können nicht einfach einen Streuner mit ins Haus bringen und schon gar nicht in die Küche!"
"Sei nicht gemein! Komm schon, er sieht doch wirklich, wirklich, wirklich hungrig aus! Und außerdem ist er bestimmt ganz lieb! Biiiitte?"
"Aber was, wenn Mutter uns erwischt? Du weißt, dass sie keine Tiere im Herrenhaus haben will."
Die einzige Antwort auf meinen Protest war diesmal ein trotziger Schmollmund und eine Unschuldsmiene, die der des Hundes gar nicht mal so unähnlich war. Sie ließ mir keine Wahl; der Form halber protestierte ich zwar noch ein wenig, aber schon nach kurzer Zeit gab ich auf und wir beide machten uns daran, den Mischling ins Haus und durch die Galerie Richtung Küche zu lotsen. Gracie war fest davon überzeugt, dass sie die Köche dazu bringen konnte ein paar Reste zu opfern. Zuerst sah es so aus als würde alles gutgehen, und ich glaubte schon aufatmen zu können - aber ein strenger Ruf von der Treppe brachte mich in die Realität zurück.
"Lady Gracelyn! Den ganzen Vormittag suche ich Sie überall, während Sie hier durch die Galerie spazieren und mich zum Narren halten?!"Diesmal war es tatsächlich Gracies Lehrer. Mr. Dawson war weithin als strikter, unnachgiebiger Lehrmeister bekannt, der sich auch von einem Adelstitel nicht einschüchtern ließ. Er arbeitete schon so lange für meine Familie, dass er sowohl Clemence als auch mich unterrichtet hatte. Gracie warf mir einen flehenden Blick zu, aber ich schüttelte nur stumm den Kopf und bedeutete ihr, dass sie mit Mr. Dawson allein zurechtkommen musste. Ich jedenfalls hatte nicht die geringste Absicht, mich mit diesem Herrn anzulegen.
"Pass auf den Hund auf, ja?" flüsterte sie mir noch zu, dann folgte sie Mr. Dawson schmollend nach oben und ließ mich mit dem Mischling in der Galerie zurück. "Moment, ich, aber - Gracie warte, du kannst mich doch nicht einfach...!"
Als wäre das nicht genug, hörte ich auf einmal auch noch Schritte zu meiner rechten. Zweifellos Mutter, die herausfinden wollte, wer oder was so einen Aufruhr in der Halle verursachte. Wenn sie mich hier fand -
"Ahhh, komm schon... Hund? Hier lang, komm mit! Schnell!" , versuchte ich es, und zu meinem Glück folgte mir der Mischling tatsächlich. Ohne wirklich darauf zu achten wo ich hinlief, öffnete ich einfach irgendeine Tür und stürzte -mit dem Hund- in den dahinterliegenden Raum. Hoffentlich war niemand darin. Himmel, worauf hatte ich mich hier bloß eingelassen?
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Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...