Ein schwaches Lächeln - nun, das... war doch ein gutes Zeichen, nicht wahr? Es zeigte immerhin, dass er mich noch hören konnte und sein Bewusstsein zumindest noch nicht vollkommen abgedriftet war. Obwohl er ja anscheinend der Meinung war, dass Befehle bei ihm wirkungslos seien. Unter besseren Umständen hätte mich diese trotzige Bemerkung zweifellos zum Lachen gebracht. Es gehörte sich zwar nicht, aber ich mochte Angestellte, die sich trotz ihrer deutlich geringeren Stellung noch selbst treu blieben, anstatt zu willenlosen SpeicheIIeckern zu werden. Davon gab es leider viel zu wenige, denn die meisten waren entweder zu eingeschüchtert von der offensichtlichen Macht und den Titeln ihrer Herren, oder aber sie glaubten durch haltlose Schmeicheleien persönliche Vorteile erwirken zu können. Apropos Schmeicheleien.
"Cyril, uhm.. ich weiß das zu schätzen, ehrlich, a-aber sowas solltest du wirklich nicht zu mir sagen, weil... a-also ich meine, das ist nicht-"Mehr brachte ich nicht zustande, ohne wirklich zu wissen wieso. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ein Mann mir Komplimente machte. Und auch nicht das erste Mal, dass ich aufgrund dieser Komplimente errötete. Es hatte da durchaus schon den einen oder anderen aufdringlichen jungen - oder auch älteren - Herrn gegeben, obwohl Vater die meisten Verehrer bisher noch immer von mir ferngehalten hatte. Vielleicht lag es daran. Ganz abgesehen davon, dass Cyril mich äußerst informell ansprach, war er mir momentan viel näher, als- Moment. Er war deutlich näher. So sehr, dass ich mir einbildete goldene Sprenkel im hellen Braun seiner rasch immer näherkommenden Augen zu erkennen. Und diese waren mittlerweile sehr, sehr nah eigentlich, fast schon zu nah, viel zu sehr, beinahe so als würde er gleich-!Für mehr als ein kleines, erschrockenes Geräusch blieb mir keine Zeit, denn schon im nächsten Moment stolperte ich nach hinten, eine Hand auf meinen Lippen und unfähig zu verstehen, was gerade passiert war. Ich konnte Cyril einfach nur anstarren; mir war fast, als würde ich die zarte Berührung noch immer spüren.
"W-Wie kannst du es wagen!" , brach es aus mir heraus, während mein überfordertes Gehirn sämtliches Denken unmöglich machte. Mit einem solchen Verhalten hatte ich keinesfalls gerechnet. Immer und immer wieder glaubte ich, Cyril's goldbraune Augen auf mich zukommen zu sehen, obwohl ich irgendwo am Rande meines Bewusstseins registrierte, dass dieser dazu momentan endgültig nicht mehr in der Lage war.
"Dieb", flüsterte ich erst leise, dann lauter werdend. "Du sturer, leichtsinniger Dummkopf von einem Dieb. Wie kannst du es wagen einer Adeligen ihren ersten Kuss zu stehlen und dann einfach so ohnmächtig zu werden? Ich verlange eine Erklärung!"
Natürlich erhielt ich keine. Wie auch?
Mittlerweile fühlte ich mich selbst der Ohnmacht nahe, aber der Schock darüber das Wort "Kuss" laut auszusprechen und diesen damit als Realität zu akzeptieren, half das Chaos in meinem Kopf zumindest für einen Moment anzuhalten.
"Niemand darf davon erfahren."
Wie lange es schließlich dauerte bis ich meine Fassung so weit wiedergewonnen hatte, dass ich nach dem Butler klingeln konnte, wusste ich nicht. Auch nicht, was ich zu ihm sagte oder wie ich ihm erklärte, dass der bewusstlose junge Mann auf dem Sofa ein neuer Hausdiener war. Irgendjemand verbeugte sich vor mir als ich die Bibliothek verließ, jemand, der augenscheinlich schon eine Weile in der Galerie gewartet hatte, doch ich erkannte die Person nicht. Irgendein Angestellter vermutlich, zweifellos jemand dessen Namen ich kennen sollte, aber ich fühlte mich wie in Trance. Der Tag ging weiter als wäre nichts geschehen und ich spielte brav die mir zugeteilte Rolle, aber das Gefühl blieb. Es war als würde ich schlafwandeln, nur dass scheinbar niemand merkte wie unfähig ich war auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
Irgendwann fand ich mich am Tisch wieder, ohne zu wissen welche Mahlzeit wir gerade einnahmen oder wie viel Zeit genau vergangen war. Minuten? Stunden? Es hätten genauso gut Wochen sein können. Adrian fehlte, was damit erklärt wurde, dass er sich noch immer von seinem Reitunfall erholen musste, dafür saß jedoch Clemence' Besuch mit uns am Tisch. Der Name dieses Lords entfiel mir sogleich wieder und auch sonst blieb mir kaum etwas über ihn im Gedächtnis hängen, obwohl die Häufigkeit mit der er mich ansah oder versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln mich vermutlich alarmiert hätte, wäre ich weniger abwesend gewesen. Stattdessen kreisten meine Gedanken um Cyril, und um das, was passiert war. Immer wieder berührte ich unwillkürlich meine Lippen, bis Clemence mir durch eindeutige Blicke zu verstehen gab, dass ich umgehend damit aufzuhören hatte. Aber auch Cyril's Worte wollten mir nicht aus dem Kopf. Zweifellos waren sie alle seinem Fieber entsprungen, ganz bestimmt. Ich konnte und wollte einfach nicht glauben, dass mehr dahinterstecken könnte. Aber dennoch...Dein Äußeres, das bist nicht du. Dieser Satz erschreckte mich beinahe mehr als alles andere, denn so sehr ich es auch versuchte konnte ich doch unmöglich leugnen dass er zutraf. Selbst im engsten Familienkreis war mein Lächeln oft mechanisch, meine Bewegungen einstudiert und meine Worte genau gewählt, während ich mir insgeheim wünschte eines Tages diesen goldenen Käfig zu verlassen, und sei es nur für ein paar Stunden. Aber wieso konnte Cyril so mühelos hinter diese Fassade blicken? Ich musste unbedingt vorsichtiger werden.
Nach dem Essen, von dem ich im Grunde kaum mehr wahrgenommen hatte als das Endloskarussell in meinem Kopf, wurde ich nach oben geschickt um mich ebenfalls noch ein wenig auszuruhen. Etwas Schlaf, oder wenigstens Ruhe würde vielleicht endlich das surreale Gefühl vertreiben, und ohnehin wäre es vermutlich besser, wenn ich Cyril so schnell nicht wieder begegnete. Der Weg nach oben führte mich jedoch noch einmal durch die Galerie, vorbei an der Tür zur Bibliothek, und obwohl absolut alles dagegen sprach ging ich zögernd darauf zu. Es war unmöglich zu hören ob jemand darin war. Vielleicht hatte man Cyril längst ein geeignetes Krankenlager irgendwo anders bereitet - vielleicht aber auch nicht.
Unentschlossen blieb ich stehen und verfluchte mich selbst.
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Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...