Es dauerte nicht lange bis der Arzt das Anwesen erreichte, und doch fühlte es sich an als wären Stunden vergangen. Während des Wartens bedeutete jede Minute eine quälende Ewigkeit. Der schon etwas ältere, jedoch hervorragend ausgebildete Dr. Lawrence Geary arbeitete schon seit geraumer Zeit als Leibarzt fast ausschließlich für meine Familie. Lange genug um aus schmerzlicher Erfahrung zu wissen, dass manchmal nur wenige Sekunden über Leben und Tod entscheiden konnten, weshalb er es jetzt umso eiliger hatte zu seinem Patienten zu kommen. Er wirkte kaum überrascht, dass es sich dabei um einen Angestellten handelte statt um ein Mitglied meiner Familie - man hatte ihn auf dem Weg bereits über die ungewöhnliche Situation informiert.
"Er ist wach, Mylady. Die Chancen stehen gut, dass er durchkommt. Es ist im Moment vielleicht etwas schwer zu glauben, aber das wird schon wieder", sagte er nach einer Weile und lächelte nachsichtig, während ich erleichtert ausatmete. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Natürlich war ein Stallknecht leicht zu ersetzen und Unfälle passierten nun einmal ab und an, aber wir standen tief in Cyril's Schuld und in meinen Augen durfte diese keinesfalls unbeglichen bleiben. Das wäre unverzeihlich, auch wenn ein pragmatischer Mann wie beispielsweise Clemence diesen Gedanken als lächerlich abtun würde.
"Joanie?", unterbrach Adrian ungewohnt kleinlaut die Stille. Mittlerweile hatten auch wir die Bibliothek verlassen, damit sich Dr. Geary um Cyril's Verletzungen kümmern konnte. "Tut mir leid dass du dir Sorgen machen musstest. Und dass dich das Pferd fast erwischt hätte. Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen."
Ich sah mich in der Galerie um. Dies war eigentlich kein Gespräch, welches wir vor den etwas abseits wartenden Hausmädchen führen sollten, aber es ließ sich wohl nicht vermeiden. Immerhin waren sie höflich genug sich den Anschein zu geben, als würden sie nicht mit gespitzten Ohren jedem unserer Worte lauschen.
"Du hast vor allem dich selbst in Gefahr gebracht, ebenso wie dein Pferd. Und Cyril auch, ohne den diese ganze Sache noch viel schlimmer hätte ausgehen können. Ich weiß, dass du das nicht wolltest, aber es ist passiert und daran hast du einen sehr großen Anteil." Ich wartete kurz, halb darauf gefasst, dass er es abstreiten oder sich auf irgendeine Weise rechtfertigen würde, aber er blickte zu Boden und machte ein betretenes Gesicht. "Es ist wichtig Fehler einzugestehen und ich bin froh, dass du das erkannt hast, aber bei mir musst du dich nicht entschuldigen. Mir ist nichts passiert." Als Adrian verstand was ich damit meinte, sah er mit einem Mal schon weniger betreten, sondern eher empört aus. "Vielleicht solltest du dich erstmal ein wenig ausruhen, und während du das tust kannst du überlegen, was du Cyril außer einer Entschuldigung möglicherweise auch noch sagen solltest." Abgesehen davon, dass dies das mindeste war, würde es ihm vielleicht ganz gut tun seinen Stolz einmal zu Gunsten eines in seinen Augen einfachen Stallknechtes zu überwinden.
Kurze Zeit nachdem mein Bruder nach oben gegangen war, kam Dr. Geary aus der Bibliothek um mir mitzuteilen, dass ich hineinkonnte. Dem wollte ich auch gerade nachkommen, als das Geräusch von Pfoten auf dem Parkett mich aufmerken ließ und Admiral wie aus dem Nichts angelaufen kam. Beinahe als hätte er gespürt, dass es seinem Herrn nicht gut ging, obwohl ich mir nicht erklären konnte, wie dies möglich war. In der Bibliothek angekommen überraschte mich Cyril jedoch fast noch mehr als sein Hund, indem er meine vorherigen Fragen beantwortete. Ich hatte bereits angenommen, er habe sie nicht gehört und eigentlich ohnehin keine Antwort erwartet. Seine unerwartete Aufrichtigkeit jagte mir Schauer über den Rücken, denn ich kam nicht umhin mich zu fragen wie seine Entscheidung wohl ausgefallen wäre, hätte er mich schon länger gekannt. Man könnte zwar behaupten, Adrian und ich wären es allein aufgrund unserer Abstammung wert, gerettet zu werden - und sicherlich kannte ich eine ganze Reihe von Menschen in deren Augen es sich so verhielt - aber gegen meinen Willen stimmte ich Cyril's Auffassung mehr zu; der Wert einer Person wurde nicht so sehr von Titeln und Besitz bestimmt, sondern vielmehr von ihrem Verhalten. Abermals überlief es mich kalt. Vater wäre zweifellos außer sich gewesen, wenn einem seiner Kinder etwas zugestoßen wäre. Zwar hätte er selbst vielleicht Cyril's Leben verschont, denn er war im Allgemeinen kein rachsüchtiger Mann; Mutter jedoch hätte ihn möglicherweise zu größerer Härte überredet.
"Ich bin dir in jedem Fall sehr dankbar, dass du uns beide gerettet hast", sagte ich schließlich, wobei ich versuchte meine Stimme gefasster klingen zu lassen als ich mich augenblicklich fühlte. "Ob es die richtige Entscheidung war kann wohl nur die Zeit zeigen. Allerdings bin ich sicher, dass seine Lordschaft dir ebenfalls sehr dankbar sein wird, wenn er erfährt was passiert ist. Ich werde ihm sagen, dass es nicht deine Schuld war. Nur so entspricht es der Wahrheit, auch wenn du selbst dies nicht glauben magst."
Vater würde es auch nicht glauben wollen, soviel stand fest, aber auf mich würde er hören. Vielleicht konnte ich so zumindest einen kleinen Teil meiner Schuld bei Cyril begleichen.
"Mein kleiner Bruder bedeutet mir sehr viel, aber ich weiß auch, dass sein Benehmen manchmal... Ich meine, er ist nicht immer -" einfach hatte ich sagen wollen, besann mich aber noch rechtzeitig. Cyril war trotz allem ein Angestellter, vor dem ich derartige Gedanken nicht einfach äußern durfte, weshalb ich verlegen das Thema wechselte."Diese Worte bedeuten wahrscheinlich nicht viel, aber es tut mir aufrichtig leid, dass du deine Schwester verloren hast. Ihr Name war Liz, nicht wahr?" Jedenfalls glaubte ich, ihn diesen Namen flüstern gehört zu haben kurz bevor der Arzt angekommen war. "Ich habe vor langer Zeit ebenfalls eine Schwester verloren. Meine Mutter starb in der gleichen Nacht. Mein einziges Glück ist, dass ich damals zu jung war um mich heute noch daran zu erinnern."
Nachdenklich musterte ich das Porträt meiner leiblichen Mutter, welches an einer der gegenüberliegenden Wände hing. Vielleicht hätte ich nicht davon anfangen sollen, aber Cyril hatte zuvor so ehrlich gesprochen, dass ich mich geradezu verpflichtet fühlte dies ebenfalls zu tun.

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Dollhouse
Roman d'amourEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...