„Es wird Zeit, zurückzukehren."
Ich blickte auf um Cyril in die Augen zu sehen, um den Moment zwischen uns nur noch ein paar Sekunden zu verlängern, und doch mussten wir beide schweren Herzens in die Realität zurückkehren. Eine schier unmögliche Aufgabe nach allem, was eben zwischen uns passiert war. Ich sah noch immer die Hoffnung und Entschlossenheit in seinem Gesicht und musste mich unwillkürlich fragen, wie es mir erst jetzt hatte auffallen können. Was er eben gesagt hatte, dass es keine Rolle spielte wen ich heiraten würde – ich konnte sehen, dass er es ernst meinte. Es brach mir das Herz, aber ich glaubte Cyril diese Worte, die eine vollkommen unmögliche Hoffnung in mir weckten. Tief im Innersten wusste ich, dass ich ihn nach diesem Abend nie mehr aus meinem Herzen würde verbannen können.
Unsere Hände blieben ineinander verschränkt als Cyril mir aufhalf und mich an sich zog. Es fühlte sich richtig an, diese Nähe. Alles daran gab mir ein so viel stärkeres Gefühl der Sicherheit als die erstickende Enge des Hauses mit all seinen Regeln und Erwartungen, aber ich ließ mich dennoch zurück mit nach drinnen ziehen. Gemeinsam liefen wir durch endlose Gänge, Räume und Passagen, bis wir nach viel zu kurzer Zeit mein Zimmer erreichten. Cyril näherte sich mir noch einmal bevor wir uns endgültig trennten – trennen mussten. Es war besser so, das wussten wir beide, aber ich stolperte dennoch auf die sich zwischen uns schließende Geheimtür zu als würde ein unsichtbares Band uns verbinden. „Cyril, warte-!" Die Worte kamen unwillkürlich, aber es spielte keine Rolle mehr. Die Tür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss und verbarg Cyril's sanftes Lächeln endgültig vor mir. Er war fort. Ich wusste selbst nicht, was ich ihm überhaupt hätte sagen sollen. Bleib hier? Nimm mich mit? Es gab keinen Ort, an den wir hätten gehen können. Jedenfalls nicht auf Dauer.
Das Klopfen an meiner Tür wurde unterdessen immer lauter und fordernder, und ich hörte gedämpft die aufgeregte Stimme eines Dieners von draußen rufen: „Lady Eleanor, seid Ihr da?"
Noch einen letzten Moment lang erlaubte ich mir, die Augen zu schließen und einmal tief durchzuatmen. Dann, mein Gesicht wieder eine tadellose Maske der Neutralität, öffnete ich. „Gibt es einen bestimmten Grund, warum ich so spät am Abend noch von Euch gestört werde?"
Der junge Mann vor der Tür zuckte zusammen, als ich ihn so direkt ansprach. Dem Aussehen nach hatte er den Abend damit verbracht der ehrenwerten Gesellschaft unten im Saal aufzuwarten, nun aber wirkte er überaus nervös, was mich sofort daran denken ließ was für ein Chaos Cyril mit seiner kleinen Ablenkung verursacht haben musste.
„Lady Eleanor! Verzeiht die Störung, Mylady, Miss, es ist nur, also es gab einen ganz schrecklichen Aufruhr beim Dinner weil Lady Cecilia auf einmal ihren Ohrring vermisst hat, Mylady, und dann waren Sie plötzlich auch noch verschwunden! Wirklich ein schrecklicher Aufruhr sag' ich Ihnen, und dann, ja also dann haben wir überall nach dem Ohrring gesucht aber der war..."
Ich hörte dem Gestammel des jungen Mannes nur mit halbem Ohr zu als er mir erzählte, was sich nach meinem vermeintlichen Verschwinden im Saal zugetragen hatte. Er tat dies so hektisch, dass ich ihn höflich anlächelte und sogar ab und an nickte, um seine Nerven zumindest ein bisschen zu schonen – vergeblich. Dennoch gelang es ihm schließlich mir zu berichten, dass unsere Gäste sich in ihre Räumlichkeiten zurückgezogen hatten, und dass er selbst von meinem Bruder hergeschickt worden war – „Tut mir ganz furchtbar leid für die Störung, Mylady, wirklich!" – um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei.
„Oh, Sie müssen ja ganz schwindelig vor Freude gewesen sein nach der Ankündigung, nicht wahr, Mylady? Wir haben natürlich die Gerüchte gehört von denen die da waren, die anderen Diener und ich, also wir freuen uns alle ganz unglaublich für Sie!"
Ich spürte, wie meine Maske bei diesen Worten Risse bekam und das aufgesetzte Lächeln mir von den Lippen glitt. Der junge Diener vor mir musste es wohl auch bemerkt haben, denn was auch immer er in diesem Moment in meinem Gesicht sah überzeugte ihn davon, endlich den Mund zu halten und mit hochrotem Kopf, Entschuldigungen murmelnd, den Rückzug anzutreten. Er stolperte beinahe über seine eigenen Füße bei dem Versuch, sich noch einmal zu verbeugen und dabei gleichzeitig so schnell wie möglich zu flüchten.
Ich blieb nicht lange allein. Nur wenige Minuten nachdem ich die Tür wieder hinter mir geschlossen hatte betrat auch schon mein Kammermädchen das Zimmer. Sie half mir aus meinem Kleid, löste meine Frisur, und doch bemerkte ich kaum ihre Anwesenheit; mein Blick blieb im Spiegel an dem Medaillon um meinen Hals haften. Cyril's Medaillon. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen wann er es mir gegeben hatte, aber das war auch nicht wichtig. Was zählte war, dass ich es jetzt hatte, und dass ich wusste, was es bedeutete. Wir beide taten das.
Ich berührte mit den Fingerspitzen das glatte Metall des Medaillons und fuhr sanft daran entlang, als ich plötzlich bemerkte, wie das Mädchen hinter mir die Kette anhob um mir beim Abnehmen des Schmuckes zu helfen.
„Nein." Es gelang mir gerade noch nicht laut zu werden, aber meine Stimme war dennoch so scharf, dass die junge Frau erschrocken einen Schritt zurücktrat. „Ich behalte diese Kette heute Abend an. Du kannst jetzt gehen", sagte ich ihr, während ich vom Frisiertisch aufstand. Zwar versuchte ich dabei meine Fassade wieder herzustellen, aber ihr Blick blieb dennoch für einen Moment an meinen Händen hängen, die sich unwillkürlich fest um das Medaillon geschlossen hatten. Meine Verbindung zu Cyril. Auch wenn er nicht hier war, auch wenn wir uns vielleicht nie wieder so sehen konnten wie an diesem Abend, so würde ich dies dennoch nicht aufgeben.
Nachdem das Mädchen gegangen war und ich mich nun endlich ins Bett legte hätte ich erwartet, dass meine Gedanken zu schnell umherwirbeln würden um je einzuschlafen, aber das Gegenteil war der Fall. Beinahe im selben Augenblick in dem mein Kopf das Kissen berührte, spürte ich bereits, wie die Erschöpfung des Tages mich einholte und mir die Augen zufielen. Dabei gab es so viel, dessen ich mir klarwerden musste bis zum Morgen. Zum Beispiel, wie ich mit Cyril sprechen sollte wenn ich ihn sah. Ich würde ihm eine Antwort geben müssen. Für unser beider Sicherheit gab es da nur die eine Richtige, aber würde ich mich nach dem heutigen Abend überhaupt je dazu durchringen können, diese auch tatsächlich auszusprechen? Wohl kaum. Nicht, nachdem ich die Hoffnung in Cyril's Blick gesehen hatte, und so sehr ich es leugnen sollte, nachdem er damit die gleiche Hoffnung auch in mir geweckt hatte. Aber wir würden morgen nicht allein sein, nicht wahr? Solange Cecilia dabei war durfte ich mir keine Fehler erlauben. Vielleicht war es besser so. Vielleicht, wenn ich nur den morgigen Tag überstehen konnte würde mein Herz aufhören, sich so nach Cyril zu verzehren.
Ich war fast vollständig eingeschlafen als ich ein leises Geräusch neben mir hörte. Kurz darauf rollte sich mein kleiner Kater neben mir zum Schlafen ein. „Ich habe mich heute Abend verlobt, Chocolate. Wusstest du das?" ,flüsterte ich ihm zu, eine Hand noch immer um Cyril's Medaillon geschlossen. Unser beider Versprechen.
**
Ich erwachte viel zu spät am Morgen als mir die Sonne bereits durch die geöffneten Vorhänge ins Gesicht schien. Mein Kammermädchen war längst anwesend und lächelte mild, als ich hektisch aus dem Bett sprang. Sie glaubte wohl, ich sei nervös einen Tag mit der Schwester meines Verlobten zu verbringen und gab sich alle Mühe, dieser Nervosität mit überschwänglichem Geplapper entgegenzuwirken während ich mich von ihr für den bevorstehenden Ausflug herrichten ließ. Ich war kaum fertig als es auch schon zur elften Stunde schlug und ich erwartungsvoll zur Tür blickte. Wenn ich mich richtig erinnerte hatte Cecilia gesagt – darauf bestanden sogar – dass uns Cyril jeweils vor unseren Zimmern abholen sollte, nicht wahr? Das Klopfen ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten, und obwohl ich mein Gesicht unter Kontrolle hatte, schien mein Herz sich auf einen Marathon vorzubereiten. Ich strich ein letztes Mal mein Kleid glatt während das Kammermädchen zur Tür ging, um diese zu öffnen. Dann: „Guten Morgen, Cyril."
DU LIEST GERADE
Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...