1_Eleanor Joan Leighton

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"Also guuut, ich gehe ja schon. Du kannst aufhören mich so vorwurfsvoll anzuschauen."
Ärgerlich wandte ich mich von dem kleinen Kater ab, der mir aus halb geschlossenen Augen entspannt hinterherblinzelte. Chocolate hatte mir auf dem Balkon an der Rückseite des Hauses mit den imposanten, hellen Steinfassaden Gesellschaft geleistet, auch wenn er sich herzlich wenig für den Blick auf den weitläufigen Garten und das dahinter liegende Gelände interessierte. Ganz eindeutig war ihm sein Vormittagsschläfchen wichtiger als die Aussicht, oder meine gegenwärtige Laune. Aber das Level an Unterstützung, das man von einem Kater erwarten konnte war nun einmal relativ überschaubar, also nahm ich es ihm nicht übel.
Ziellos durchquerte ich die weitläufige Galerie, von der nach allen Seiten prunkvoll verzierte Doppeltüren abzweigten. Würde ich mich in Richtung Ostflügel wenden, käme ich in den Speisesaal und dahinter in zahlreiche weitere Räumlichkeiten, die man für ausgiebige Feiern, Abendessen und Empfänge benötigte. Jeder, der in der näheren Umgebung von Collingwood Rang und Namen hatte, war ganz bestimmt schon einmal in diesem Teil des Hauses gewesen. Ganz im Gegenteil zum Westflügel, der den engeren Bekannten und Gästen, sowie natürlich meiner Familie vorbehalten war. Zum einen befand sich dort die Bibliothek, in der ein großes Porträt meiner leiblichen Mutter hing, sehr zum heimlichen Missfallen meiner "anderen" Mutter. Die meisten Räume hinter der Bibliothek waren private Salons oder Studierzimmer; so auch das Arbeitszimmer meines Vaters. Tatsächlich war Clemence dort aber häufiger anzutreffen als Vater selbst, wenn nichts Wichtiges die unbedingte Anwesenheit seiner Lordschaft erforderte.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken meinem Bruder einen Besuch abzustatten, seufzte dann aber und setzte meinen Weg durch die Halle fort. Ich wollte ihn jetzt nicht bei der Arbeit stören. Und außerdem...

"Was machst du denn hier?", unterbrach eine fröhliche Stimme meine Gedanken und ich fuhr zusammen und sah mich verwirrt nach ihrem Ursprung um, "Ohh habe ich dich erschreckt? Tut mir leid! Hast du auf mich gewartet? Kann ich mitkommen, zu... wohin auch immer du gerade unterwegs bist? Aber nur wenn es kein Unterricht ist. Ich benehme mich auch ganz vorbildlich! Also darf ich, ja? Biiitte?"

Überrumpelt von ihrem Redeschwall dauerte es einen Moment, bis ich die Stimme meiner Schwester zugeordnet hatte, die aufgeregt vor mir herumtänzelte. Wo war sie denn überhaupt so plötzlich hergekommen?

"...Gracie, solltest du nicht oben sein? Ich habe deinen Lehrer gar nicht gehen sehen. Ist er noch da?", fragte ich sie, was zur Folge hatte, dass sie einen Schmollmund zog und mich unter ihren dunklen Locken hindurch unschuldig ansah. Das war dann wohl eindeutig.

Im Obergeschoss befanden sich vor allem die privaten Räume der einzelnen Mitglieder meiner Familie, auch wenn im Ostflügel zahlreiche Zimmer leer standen, die wenn nötig auch für Gäste genutzt werden konnten. Noch weiter oben befanden sich dann nur noch die Schlafkammern der Bediensteten, die hier im Haus wohnten, aber diese waren nur über die mehr oder weniger geheimen Passagen der Angestellten zu erreichen. Schlichte Türen und Gänge, in die Wände eingelassen und kaum wahrnehmbar, wenn man nicht von ihrer Existenz wusste. Aber sie waren da und zogen sich wie ein unsichtbares Netz durch das ganze Haus, damit die Angestellten ihrer Arbeit nachgehen konnten, ohne uns dabei allzu sehr mit ihrer sichtbaren Anwesenheit zu belästigen. Obwohl sie sich auch ganz hervorragend als Versteck eigneten. Einige dieser Gänge führten ins Untergeschoss, wo sich neben dem Weinkeller diverse Vorratskammern, Aufenthalts- und Arbeitsräume der Angestellten befanden. Und außerdem war dort...

"Du hast dich in der Küche vor deinem Lehrer versteckt.", stellte ich fest, nicht sicher ob ich schockiert, belustigt oder tadelnd klingen wollte.

"Vielleeeicht. Aber du sagst es Mama nicht.", gab sie prompt zurück. Das war keine Frage, aber sie hatte Recht. Ich sollte eigentlich, aber ich würde es nicht tun. Welchen Vorwurf konnte ich Gracie schon dafür machen, dass sie diesen seltsam fremden, unbekannten Teil des Hauses erkunden wollte, in dem eine Dame eigentlich nichts zu suchen hatte? Ich selbst wusste mittlerweile, dass es sich nicht schickte den Angestellten bei ihrer täglichen Arbeit zuzusehen, so faszinierend sie auch sein mochte. Aber meine Schwester war zu ihrem Glück noch jung genug, um als Kind zu gelten. Kinder durften die strengen Regeln der Etikette noch ab und zu brechen. Ich nicht. Jedenfalls nicht mehr. Und genau das war das Problem, nicht wahr?
"Also, kommst du dann jetzt? Wohin wolltest du überhaupt? Ah, wir könnten Adrian suchen und ihn von seinen Aufgaben befreien! Ihm ist bestimmt auch furchtbar langweilig."
Und schon wieder unterbrach Gracie meine Gedanken. Ich wollte gerade dazu ansetzen ihr zu erklären, warum das ganz bestimmt keine gute Idee war, als ich hörte wie sich hinter uns eine Tür öffnete. Meine Reaktion war unvermittelt und aus reiner Gewohnheit, aber ich nahm augenblicklich Haltung an und setzte ein tadellos höfliches Lächeln auf, bevor ich überhaupt sehen konnte wer da kam. Hoffentlich war es nicht Gracies Lehrer, der nach ihr suchte...

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