Meine Gedanken wanderten zurück zu dem Kuss und augenblicklich fühlte ich den Drang, diesen Moment zu wiederholen. Ich hatte noch nie jemand zuvor geküsst, aber ich wusste einfach, dass es nicht besser als das werden konnte. Und dummerweise hatte der Kuss auch dazu geführt, dass ich mich nach mehr sehnte. Nach viel mehr als nur einen Kuss. Ich verpasste mir eine innere Ohrfeige. Das waren nun wirklich keine angebrachten Gedanken. Ich war schon mit dem Kuss viel zu weit gegangen, alles andere war schlichtwegs unmöglich. Und dennoch konnte ich nichts gegen die Gedanken machen- letztlich war ich wohl auch nur ein Mann. Und Eleanor zog mich unwiderstehlich an. Aber ich wünschte mir gleichzeitig auch etwas ganz anderes. Ich wünschte, ich könnte sie als die Vertraute haben, wie ich mich für sie angeboten hatte. Aber ich würde ihr niemals alles erzählen können. Ein Teil würde wohl immer ein Geheimnis bleiben müssen.
Mein Blick wanderte von einem Stern zum nächsten. So viele, die ich beim Namen nennen konnte und die doch so unerreichbar fern waren, dass ich sie niemals erreichen konnte. Mask hatte mir wirklich viel beigebracht. Ohne ihn wäre ich vermutlich schon lange nicht mehr am Leben. Er hatte mich aus einem Loch herausgerissen nach dem Tod meiner Schwester. Er hatte mir alles beigebracht was ich wusste. Wo er wohl inzwischen war? Ich hatte ihn schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Zwei Jahre, in denen ich Masks Maske übernommen hatte. Ein Fakt, den Eleanor noch weniger erfahren durfte, denn ich war sicher, dass sie schon von mir gehört hatte. Mein Name war nicht gerade unbekannt. Sie durfte auf keinen Fall auch nur einen Hauch von Verdacht schöpfen. Aber bei ihr schien ich nicht gerade daran zu denken, was ich alles beachten musste. Stattdessen wurde ich fast schon leichtsinnig. Ich musste anfangen mich wieder daran zu erinnern, wer ich wirklich war... wenn das nur so einfach wäre.
Ich war mir bewusst gewesen, dass es gefährlich war die Straße zu erwähnen. Einfach, weil man sie mir nicht ansah. Man mochte mir anmerken, dass ich nicht der Oberschicht entstammt, aber ich könnte genauso gut einer Mittelklasse-Familie entstammen. Das Problem war, dass ich die Straße hatte erwähnen müssen. Wenn nicht, wäre es irgendwann zu Ungereimtheiten gekommen. Eleanor hätte irgendwann vielleicht angefangen über meine Familie fragen zu stellen und auch die "Taschenspielertricks" hätte ich kaum erklären müssen. Da war ein Teil der Wahrheit besser als ein Stapel an Lügen, der irgendwann zusammenfallen würde.
Ich beobachtete aufmerksam Eleanors Worte auf meine Reaktion. Beides, was ich sah, gefiel mir nicht wirklich. Mitleid und Anerkennung- Ersteres wollte ich nicht, zweites hatte ich nicht verdient. "Wir sind auch nur Menschen. Das Einzige, das uns von euch unterscheidet, ist, dass wir beide Eltern verloren haben. Es gibt unter den Waisenkindern genauso gute und schlechte Menschen wie auch unter dem Rest der Gesellschaft. Aber bei einem haben die Geschichten wohl recht: Es ist immer besser uns zu meiden. Wir haben eine andere Perspektive auf die Welt. Keiner hat uns geholfen. Die, die etwas aus sich gemacht haben, haben das aus eigener Kraft geschafft. Die, die schwach sind, werden gnadenlos untergehen. Das Leben auf der Straße ist hart- es schenkt niemandem etwas. Wir tun alles um zu überleben. Auch wenn sich die Geschichte jedes einzelnen Kindes wohl stark unterscheidet und es stets solche und solche Menschen gibt. Ich hatte Glück- nach dem Tod meiner Schwester hatte ich jemanden, der mir half. Er brachte mir lesen und schreiben und so vieles mehr bei. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier... Lady Eleanor, vielleicht solltet auch Ihr mich besser meiden, so sehr mir das auch missfallen würde."
Mein Blick verlor sich in ihren Augen und ein zärtliches Lächeln umspielte einen Moment meine Lippen. Ich konnte ihr nicht wehtun, aber ich konnte jedem anderen auf der Welt wehtun, wenn es meinem Vorteil gereichte. Es wäre besser, wenn sich Eleanor von mir fernhielt. Sie sollte mir nicht zu nahe kommen. Ich war gefährlich und das wusste ich auch. Und doch schaffte ich es nicht sie von mir zu stoßen. "Und glaubt mir, ich hätte meine Herkunft gerne vor Euch verborgen, aber zum einen will ich euch nicht anlügen, zum anderen weiß ich, dass ihr schlau genug seid, dass Euch eines Tages Unstimmigkeiten aufgefallen wären. Mich umgeben viele Geheimnisse und noch nie habe ich so sehr den Drang verspürt sie jemandem zu enthüllen wie Euch gegenüber. Aber wenn Sie euch interessieren, werdet Ihr sie wohl selbst herausfinden müssen." Ein leichtes Grinsen schlich sich auf meine Lippen.

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Dollhouse
RomanceEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...