Cyril so nahe zu kommen war ein Fehler gewesen. Das merkte ich in dem Moment, als er die Distanz zwischen uns bis auf wenige Zentimeter verringerte und mir ein weiteres Lächeln schenkte. Ob mein kleiner Trick funktioniert hatte oder nicht vermochte ich nicht zu sagen - sicher war ich mir nur, dass Cyril sich umgekehrt seiner Wirkung auf mich überaus bewusst war und diese meisterhaft ausnutzte. Was hatte ich mir auch dabei gedacht, ihn in seiner Königsdisziplin herauszufordern? Ich hätte wissen müssen dass ich dieses Spiel nicht gewinnen konnte, aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.
Ich hielt seinem Blick stand, obwohl mich seine Nähe fast in den Wahnsinn trieb und ich Mühe hatte nicht zu vergessen, was ich eigentlich von ihm wollte: die Wahrheit. Diese war einfach zu wichtig, als dass ich mich Cyril jetzt hingeben konnte, so sehr ich das in meinem unvernünftigen Zustand auch gerade wollte. Nein, ich war fest entschlossen diesmal keinesfalls die Beherrschung zu verlieren, ganz egal wie sehr es mich nach dem Gegenteil verlangte.
Genau in diesem Moment drückte Cyril seine Lippen sanft auf meine. Mein Kopf war augenblicklich leer, während mein Herz gefühlt eine ganze Reihe von Schlägen aussetzte. Ich wusste nichts mehr; nur noch, dass was wir hier taten mehr als verboten war aber ich dennoch nicht wollte, dass es aufhörte. Sämtliche Unsicherheiten, Vorsätze und Zweifel die ich eben noch gehabt hatte waren plötzlich nicht länger wichtig. Cyril hätte in diesen Sekunden dem König höchstpersönlich seinen Schmuck stehlen können - es hätte mich nicht weiter interessiert. Die Erinnerung an unseren ersten Kuss vermischte sich mit diesem, und obwohl ich beide Male überrascht, wenn nicht sogar geschockt davon war, so konnte ich doch nicht länger leugnen dass es sich gut anfühlte. Mehr als gut sogar. Meine Hände lagen noch immer auf Cyril's Schultern, aber selbst nüchtern hätte ich kaum sagen können ob ich versuchte, ihn wegzuschieben oder ihn noch dichter an mich zu ziehen.
Schließlich löste er sich von mir und ich schnappte leicht nach Luft, obwohl nur wenige Sekunden vergangen waren. Ich machte ihn verrückt?! Verdammt das, das sollte doch wohl ein Scherz sein! Ich konnte Cyril einfach nur anstarren während die Erkenntnis dessen, was gerade - zum zweiten Mal! - passiert war jetzt mit voller Wucht auf mich einstürzte. Oh Gott, was hatte ich da gerade getan? Schlimm genug dass ich einen Kuss zugelassen hatte - aber jetzt erneut? Viel schlimmer noch, es hatte mir durchaus gefallen.
Gottverdammt, er hatte mich doch sogar gewarnt! Ich hätte ihm niemals folgen sollen. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Ich sollte ihm auch jetzt nicht folgen, aber Cyril ließ mir keine andere Wahl. Ohnehin hatte ich auch gar nicht die Kraft mich dagegen zu wehren, weshalb ich mich einfach von ihm mitziehen ließ. Tatsächlich hielt ich seine Hand sogar so fest ich nur konnte, denn ohne ihn wäre ich in diesem Moment wohl vollkommen verloren. Was ironisch war wenn man bedachte, dass er derjenige war, der mich überhaupt erst in diesen Zustand versetzt hatte.
Wir eilten durch verschiedenste Korridore, Flure und über mehrere Treppen; zunächst noch solche die mir bekannt waren, schon bald aber durch Gänge, die ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Für ein Kind hatten die geheimen Passagen der Diener durchaus ihren Reiz, und während wir liefen erinnerte ich mich schwach an eine Zeit, in der ich selbst noch durch diese Gänge gerannt war. In etwa so wie meine jüngere Schwester jetzt hatte ich die Passagen genutzt, um mich vor meinen Pflichten zu verstecken. Wenn es nur noch immer so einfach wäre. Aber ich hatte meine Lektion bereits vor Jahren gelernt: es war besser sich in sein Schicksal zu fügen, statt die Strafe zu spüren. Eine Adelige wie ich hatte in diesen Gängen nichts verloren.
Je weiter Cyril mich nach oben und damit fort von den Haupträumen des Hauses führte, desto weniger erkannte ich. Als wir endlich stehen blieben war ich außer Atem und mir war etwas schwindelig, aber sobald ich den Blick hob, war all das vergessen. Der Raum war wunderschön. Trotz - oder gerade wegen - des Staubs überall, der im Mondlicht um uns herumtanzte, aufgewirbelt durch unsere Ankunft, wirkte er surreal. Fast wie in einem Traum, was mich augenblicklich ruhiger werden ließ. Es war, als könnte ich aufwachen wenn ich es nur wollte. Eine Illusion der Kontrolle, die ich in Wahrheit nicht einmal annähernd besaß.

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Dollhouse
Любовные романыEngland zur Zeit der Industrialisierung. Eleanor scheint das perfekte Leben zu führen. Ihre Familie ist hoch angesehen, reich und besitzt jede Menge Land und Angestellte. Sie bekommt Privatunterricht, ihre Gesellschaft ist vorsortiert und ihre Zukun...