Die Entscheidung

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Ein einzelner Kronleuchter beleuchtete flackernd den langen, aus massivem Eichenholz gefertigten Tisch. Behutsam fuhr Bilbo mit seinen Fingern über die geschwungenen Schnitzmuster am Rand der Platte. Glatt geschliffen, kalt und matt glänzend reflektierte die Oberfläche das schwache Licht der Kerzen, die über ihren Köpfen leuchteten.

Ohne es zu merken, seufzte er und fuhr mit den Fingerspitzen seiner linken Hand den geschwungenen Zweig eines langen geschnitzten Astes nach, der sich den gesamten Rand der Tischplatte entlangzog. Sein Kopf ruhte auf seiner rechten Hand. Angestrengt kniff er die Augen zusammen. Alles schien vor seinen Augen zu tanzen, seine Stirn brannte und sein Schädel schien jeden Moment zerspringen zu wollen. Er war müde. Todmüde.

Die lauten Stimmen, die den kleinen Raum erfüllten, verbesserten seine Stimmung nicht gerade. In einem schneidend scharfen Echo dröhnten die Worte durch seinen Kopf und vermischten sich mit den Erinnerungen an die letzte Nacht. Irgendwann konnte er sie nicht mehr auseinanderhalten und schüttelte den Kopf, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Für einen kurzen Moment zeigte es Wirkung, doch dann verfiel er wieder in dieselbe Müdigkeit, die ihn schon seit Beginn des Tages erfüllte.

Ungeduldig tippte er mit den Fingern einen Rhythmus auf die Tischplatte, in der Hoffnung, das Geräusch würde ihn wach halten. Doch schon nach wenigen Sekunden wurde auch dies von den lauten Stimmen der anderen verschluckt und er gab auf. 

Der Tisch, an dem er und die zwölf Zwerge saßen, stand in der Mitte des Raumes. Mit halb geschlossenen Augen ließ er seinen Blick durch die Runde gleiten.

Zu seiner Rechten saß Bombur, zu seiner Linken Nori, beide in ein Gespräch vertieft. Sein Blick glitt weiter, über vier weitere Zwerge, bis seine Augen schließlich auf einem leeren Stuhl am Tischende hängen blieben. Der Platz von Thorin. 

Die Zwerge diskutierten angeregt, weshalb sie nicht bemerkten, wie er nachdenklich und gedankenverloren auf den leeren Platz am Ende des Tisches starrte.

Am Morgen dieses Tages war er geweckt worden. Nun - geweckt konnte man es schlecht nennen, denn Schlaf gefunden hatte er nicht. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht und die Konsequenzen quälten ihn jetzt. Noch mehr allerdings der bloße Gedanke an das, was er in der Nacht gesehen hatte. Der bloße Gedanke an ihn. 

Thorin hatte etwas zu verkünden. Das hatte man ihm jedenfalls als Grund für die unangemessen frühe Weck-Aktion genannt, mit dem Hinweis, er solle sich lieber beeilen und zum Versammlungsraum kommen, denn er wartet nicht gerne. Wer mit er gemeint war, konnte sich Bilbo denken. Und jetzt saß er hier. Und er war nicht da. 

Er riss sich vom Anblick des leeren Stuhls los und begann wieder damit, mit den Fingerspitzen die Zweige am Rande des Tisches nachzufahren. Für einen so kleinen Raum war es ein erstaunlich großer Tisch, wie er fand. Gerade groß genug, dass kein anderes Möbelstück im Zimmer Platz hatte und gerade klein genug, dass er den Raum nicht ganz ausfüllte. Er schüttelte erneut den Kopf. Sein Freund ließ auf sich warten und er machte sich Gedanken über die Größe des Tisches... 

"Schlecht geschlafen?" hörte er plötzlich aus dem Meer an Stimmen. Diese Zielgerichtetheit in den beiden Worten ließ ihn erkennen, dass sie an ihn gerichtet waren und er hob seinen Kopf.

Die Stimme kam von Bofur, der ihm gegenüber saß und ihn fragend, fast besorgt ansah. 

Der Hobbit nickte nur müde, zwang sich ein Lächeln auf das Gesicht und gähnte. "Es war verdammt kalt... Das Kaminfeuer ist ausgegangen." Er hielt es nicht für angebracht, seinen kleinen nächtlichen Spaziergang zu erwähnen. Das musste niemand wissen. Das ging nur ihn und Thorin etwas an.

Bofur nickte verstehend. "Ja, die Nächte sind hier kalt. Du wirst dich daran gewöhnen... Wie an so vieles..." Der letzte Satz war lediglich ein Flüstern, ein Seufzen, weshalb sich der kleine Hobbit anstrengen musste, ihn zu verstehen. Es brach ihm das Herz, seine Freunde trauern zu sehen, als hätten sie ihren König verloren. Denn das hatten sie. In gewisser Weise.

More than gold | BagginshieldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt