"Er will dich sehen."
Bilbo sah auf und seine Augen trafen auf Kili, der aus irgendeinem Grund nass bis auf die Knochen war. Einzelne Perlen kalten Regenwassers tropften von seinen Haaren und Kleidern auf den steinernen Boden.
Nachdem der Halbling ihn für einige Sekunden schweigend betrachtet hatte, richtete er seinen Blick wieder auf den rabenschwarzen Himmel, den die Gewitterwolken vor seiner Zeit verdunkelt hatten. Ein Blitz durchbrach die schwere, nasse Sphäre und kurz darauf erklang der Donner, langgezogen und grollend wie das Knurren eines gigantischen, ausgehungerten Tieres, das zum Sprung auf seine Beute ansetzte.
"Ach ja?" sagte er leise, als das Grollen verklungen war. Er hatte Thorin seit dem Morgen und seit dem Schlag nicht mehr gesehen; nun war es später Abend, die Drachenkinder waren in einen leeren Raum geschafft, der Küchenboden war gesäubert, zerbrochene Schüsseln, Töpfe und Möbel waren repariert oder entsorgt worden. Es war ein langer Tag gewesen. Ein seltsamer Tag.
Er biss sich auf die Lippe, zupfte an den Ärmeln seines Hemdes, ohne es zu merken, schloss die Augen, lauschte dem Regen. Dem Donner. Dem Knurren.
"Hör mal, Bilbo..." Der Halbling öffnete die Augen wieder und Kili fuhr fort. "Niemand wird dich zwingen, zu ihm zu gehen. Ich kann ihm ausrichten, dass du nicht willst, wenn du es nicht selbst tun möchtest."
Bilbo lachte kurz und tonlos auf, und der Klang gefiel ihm nicht, er passte nicht zu ihm. Er räusperte sich, spürte etwas Salziges auf seiner Zunge. "Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich ihn nicht sehen will?"
Eine kleine Pause entstand. Bilbo sah ihn nicht an, doch er sah aus dem Augenwinkel, dass sich Kili nicht rührte, und nur langsam von einem Fuß auf den anderen wippte. Er hatte verstanden, was Bilbo mit seiner rhetorischen Frage hatte bezwecken wollen, und daher kostete es ihn einige Zeit und einige Überwindung, weiterzusprechen.
"Er war sehr seltsam, als er mich bat, dich zu holen."
Bilbo drehte den Kopf zu ihm und zog eine Braue hoch. "Soso, er war seltsam."
"Nein, nicht auf diese Art", sprach der Zwerg schnell weiter, "es war vielmehr... Wüsste ich es nicht besser, so würde ich meinen, er möchte Abschied nehmen."
Der Hobbit sah wieder aus dem geöffneten Fenster. "Abschied nehmen", wiederholte er, langsam, flüsternd, in den kalten, dunklen Regen hinein. "Wie es scheint, kann er Gedanken lesen."
"Gedanken lesen?"
"Ich habe dasselbe vor. Ich habe Heimweh. Ich... ich denke, ich werde gehen." Er hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, darüber nachzusinnen, und er hatte die Entscheidung erst vor wenigen Minuten, bei Kerzenlicht und einer Tasse Kräutertee getroffen. Sie nun so auszusprechen tat mehr weh als er vermutet hatte, denn als er es aussprach, fühlte er sich wie ein Schauspieler; wie ein Lügner. Nein, er wollte nicht gehen. Und ja, er hatte Heimweh, doch was ist schon Heimweh gegen das Gefühl, gebraucht zu werden? Er hatte diese Entscheidung getroffen, weil er meinte, dieses Gefühl hätte ihn getäuscht, genau so, wie er sich in Thorin getäuscht hatte. Er atmete tief ein, ehe er weitersprach, denn die Stille behagte ihm nicht.
"Du bist der erste, der es erfährt, Thorin wird der zweite sein. Ich hatte befürchtet, es würde schwer werden, es ihm beizubringen, doch wenn er selbst vorhat, sich von mir zu verabschieden, erleichtert das tatsächlich einiges."
Er musste gestehen, dass ihn die Tatsache verletzte, dass Thorin ihn nicht mehr an diesem Ort wissen wollte; vor wenigen Tagen erst hatte er ihm schließlich unter Tränen gestanden, seine Anwesenheit würde ihm helfen. Durch diesen Schlag vor ein paar Stunden war er einen Schritt zu weit gegangen. Doch wenn Bilbo ganz ganz ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, so hätte er einsehen müssen, dass ihn nur ein Wort, nur ein vertrautes Lächeln, und nur ein Blick in diese altvertrauten blauen Augen gereicht hätte, um seinen Entschluss zu vergessen und zu bleiben.
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More than gold | Bagginshield
FanficDie Geschichte eines Hobbits und eines Zwergen - zwei Geschöpfe, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch Gegensätze ziehen sich bekanntlich an... Die Schlacht ist gewonnen, die Feinde besiegt, die Schulden beglichen. Bilbo weiß, was das b...