Zuhause

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"Lass mich runter!" Die Flügellose trommelte auf die Schuppen seiner Klaue. Er spürte nur die leichten Vibrationen, wenn die getroffene Schuppe schwang. Eine schöne Melodie konnte sich daraus ergeben - wäre die Flügellose nur nicht so ungeduldig und würde die Melodie ignorieren.
So benahm sie sich schon, seit er sie gegriffen hatte. Es kam kein panischer Schrei über ihre Lippen, lediglich das laute Rufen, er solle sie loslassen.
Tief im Inneren verspürte er den Drang, dem nachzugeben, doch genauer betrachtet würde er dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können.

"Sei ruhig. Ich wollte dich ja nicht retten.", knurrte er und seufzte. Vielleicht sollte er sie doch fallen lassen, um sie zum Schweigen zu bringen. Vielleicht auch wieder auffangen, um ihr Vertrauen zu gewinnen.
Dabei bemerkte er gerade, dass dies gar nicht mehr nötig war. Schlagartig war sie nämlich still. Überrascht sah er hinunter. Sie starrte ihn mit großen Augen an. Er erwartete wieder ihre Angst zu riechen, doch davon war nichts da. Sie schien tatsächlich keine Angst mehr zu haben.
Was war nur los mit diesem Weibchen? Erst wahnsinnig werden, vor Wut, dann die Überraschung. Sie loszulassen rückte wieder in den Vordergrund. Vielleicht war sie ja krank.
"Du... du sprichst...", hauchte sie und ein Hauch Faszination schwang nach. Das war es also. Sie hatte noch nie mit einem Drachen gesprochen.
Er konnte ihr die Reaktion allein deswegen nicht verdenken. Kaum ein wilder Drache sprach. Sie flohen nur, wenn die Flügellosen sich näherten.
Doch selbst die gezähmten konnten noch sprechen. War sie auch einem solchen noch nie begegnet?

"Natürlich spreche ich.", brummte er. "Dachtest du, ich bin ein Schaf?"
Die Flügellose antwortete nicht, musste sie auch nicht. Ihm genügte das Schweigen zur Antwort.
Natürlich hatte er auch den Gerüchten der Flügellosen gelauscht. Die Erzählungen, dass Drachen nur fliegende Tiere seien, die man zähmen konnte, wie Vögel fangen.  Dass man sie einsperren konnte, da sie zwar wilde Bestiensind, doch auch nicht mehr als das.

"Was du auch weißt ist falsch.", brummte er und dachte an Freunde, die ihrem Volk zum Opfer gefallen sind. An Jungdrachen, die nie alten Geschichten lauschen würden.
Eine Träne tropfte aus seinem Auge, als ein einzelnes Bild sich in seiner Erinnerung hervorschob. Das Bild einer Gruppe, eigentlich gut versteckt in den Ausläufern der Berge, die von ihrem Volk entdeckt wurde. Das rote Blut, das die Felsen bedeckte und die Drachlinge, deren Körper zum Teil auf Pfähle gesteckt, zum Teil zerfetzt wurden.

"Wusste nicht, dass Drachen weinen können.", flüsterte sie und strich sanft über die Schuppen seiner Klaue. In diesem Moment wünschte er sich, er könnte wie Golddrachen in die Gedanken anderer eindringen. Es würde helfen ihre Geschichte zu verstehen.
"Es ist selten. Nur, wenn wir unseren Gefühlen nicht mehr standhalten.", antwortete er und sah auf sie hinab.
"Du bleibst bei mir. Morgen bringe ich dich in ein anderes Dorf."

Sie antwortete nicht, also beschloss er ihr nicht näher zu treten.

Er hob den Kopf und sah nach vorn. Die Ebene würde bald enden und das sanfte Grün dem Sand der Wüste weichen. Eine klare und plötzliche Grenze zwischen den Lebensräumen, kein Übergang durch trockeneres Gras und härterer, dann sandiger Erde. So war das Land aufgeteilt. Die Wälder, die Wüste, die Berge rund um die Ebene. Nur im Westen grenzte das Meer an das saftige, mit sanften Hügeln durchzogene Land der Ebene. Der größte Teil Aqanas - beherrscht von den Flügellosen.
Doch sein Interesse galt der Wüste und dem einsamen Berg, der sich aus ihr erhob. Er hielt auf die Höhle am Gipfel des schneebedeckten Berges zu.
Der Berg ragte weit in den Himmel und so lag auch die Höhle über den Wolken. Geschichten kursierten unter seinem Volk, dass dieser Berg mit jedem Jahr wuchs, doch er lebte schon lange dort und nichts hatte ihn je dazu bewogen, dies zu glauben.
Die Geschichten waren jedoch nicht komplett falsch. Der Berg wuchs mit der dicken Schneeschicht, die sich auf dem Gipfel, um die Höhle herum, bildete.
Die Höhe allein sorgte jedoch für dieses Phänomen und sicherte sogar seinen Wasservorrat.

So landete er in Eingang der Höhle und öffnete seine Klaue, damit das Weibchen sich frei bewegen konnte. Ohne sie weiter zu beachten stapfte er tiefer hinein, weg vom Eingang und der kalten Luft. Die Müdigkeit griff nach ihm, denn selbst für einen Drachen seines Alters und seiner Größe war dies kein einfacher Tag. Es hatte ihn angestrengt und er musste sich erholen.

In seiner Schlafecke, in die kein eisiger Windhauch des Eingangs drang, rollte er sich zusammen und schloss die Augen. Mit dem letzten Gedanken, was die Flügellosen eigentlich fressen außer der Beute die sie zu Kohle verbrennen, übergab es sich der Finsternis des Schlafs.

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