6. Moment

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Idan sieht hin und wieder in einer App nach, was Emi mit dem Geld kauft, das er ihr zur Verfügung stellt. Anfangs waren es nur Dinge wie Essen. Immer nur das nötige.
Aber nach und nach schlichen sich Sachen dazwischen, die ihn ein Stück weit darüber informierten, wie es ihr geht und was sie macht.

Haarfarbe.
Wie sie jetzt wohl aussieht?
Rot steht ihr sicher gut.

Ein Handy.
Mit wem wird sie schreiben?
Mit ihrem Ex? Von wem hat sie überhaupt eine Nummer?

Aber das erstaunlichste hat sie diesen Monat getan. Sie hat sich tatsächlich einen gebrauchten Kleinwagen gekauft. Kann sie überhaupt Auto fahren? Noemie hat zwar einen Führerschein, doch in der Zeit in der sie zusammen gelebt haben hat sie nie eins gefahren.

Irgendwie bereit es ihm Bauchschmerzen.
Was wenn sie sich verletzt?

Es ist nicht deine Sache.
Sagt er sich, um sich zu beruhigen. Sich seiner Verantwortung zu entziehen. Einer Verantwortung, die er von dem Moment an trug, als er sie nach ihrer Geschichte fragte. Von dem Augenblick an, als er mit seinen Gefühlen in ihren persönlichen Raum eindrang. Von da an hatte er schon eine Verantwortung zu tragen. Eine Schuld und eine daraus resultierende Verpflichtung. Aber redete sich raus, wo er nur konnte.

Bis jetzt hat er außer den Rechnungen keinen Einblick in Emis Leben bekommen.
Lynn meldet sich nicht. Es ist schon über 2 Monate her. Ob es nun gut oder schlecht ist. Idan kommt mit der Ungewissheit nicht so zurecht, wie er gerne würde. Es beschäftigt ihn von Zeit zu Zeit immer wieder.

Momentan befindet er sich in Tokio. Er trifft auf die unterschiedlichsten Menschen. Beobachtet und vor allem zeichnet. Er zeichnet sogar Gesichter. Ausdrücke auf die er vorher nie geachtet hat.

Da war zum Beispiel diese weinenden Frau. Sie saß einfach heulend auf einer Parkbank. Stur liefen die Menschen an ihr vorbei.
Ihre schwarze Kleidung war vollkommen durchnässt und ihre Haare hingen in Strähnen in ihr Gesicht. Der Regen fiel erbarmungslos weiter auf ihren zitternden Körper.

Nach dem Idan sie gezeichnet hat. Kaufte er einen Schirm und schenkte ihn ihr. Er sagte nichts. Und sie sah ihn nur etwas verwirrt an.

Es war ein Anblick bei dem es Idan in den Finger kribbelte. Ein Schauer lief seinen Rücken herunter. Er konnte es nicht genau beschreiben, aber er hatte das Gefühl sie irgendwie zu verstehen.

Auf einmal nahmen die Gesichter um Idan Farben und Formen an. So als hätte er endlich den Schleier vor seinen Augen gelüftet.

Emi hat ihn entfernt.
So war das also von Anfang an gewesen.
Er konnte keine Persönlichkeiten, keine Wahrheit oder Emotion in anderen erkennen, weil er sie nicht verstand. Weil er sie nie zu lies.

Auch jetzt sitzt er wieder mal auf einer Bank.

Seine Augen wandern über den Platz.
Von Mensch zu Mensch.
Er zeichnet und nimmt auf, bis seine Finger weh tun. Vorsichtig schüttelt er sie. Dehnt sich. Kaum einer würdigt ihn irgendeiner Beachtung. Manchmal kann er sogar Gespräche mit hören. Das Verborgene zu beobachten und zu verstehen ist eine so interessante Aufgabe. Es zeigt ihm immer wieder worauf es eigentlich an kommt. Was im Leben wichtig ist. Die Natur beantwortet so einige Fragen. Doch die Einfachheit dieser Antworten zeigt ihm auf, wie verkehrt er doch lag. Völlig daneben.
Doch jetzt ist es zu spät.

Sturheit?

Vielleicht.

Angst?

Wahrscheinlich auch das.

Stolz?

Ja auch ein wenig davon.

Alles Dinge, die Idan davon abhalten umzukehren. Zurück zu gehen, an den Ort an dem sein Herz hängt. Sein Herz das er nicht fühlen will. So lange hat es funktioniert, doch sie hat ihn durcheinander gebracht.

Plötzlich fängt eine Szene vor seinen Augen seine komplette Aufmerksamkeit. Ein kleines Mädchen läuft zwischen den großen Menschen her und sucht etwas.
Sie ruft. Noch kann Idan sie nicht verstehen.
Ihre Augen sind etwas verstört. Ihre Stimme so zart.

"Chichi? CHICHI?!"

Das kleine Mädchen ruft verzweifelt ihren Vater. Sie fällt ein paar mal hin. Aber die Menschen helfen ihr nicht wirklich. Sie versuchen das Mädchen zu beruhigen, schütteln aber nur ihren Kopf als dieses weiter spricht.

"Tasukete! Tasukete kudasei. Oto-san Tasukete!"

Falsch es war nicht so das sie ihren Vater sucht. Ihr Vater braucht Hilfe.

Idan springt auf geht auf das Mädchen zu und nimmt sie an die Hand.

"Wo ist dein Vater?"

Sie überlegt nicht lange sondern zieht ihn in eine bestimmte Richtung. Der Lärm wird immer lauter. Geschrei. Autos die hupen und Sirenen. Ein Unfall.

Ein Mann hat sich mit seinem Auto überschlagen. Ein Lkw ist scheinbar auf seine Spur gekommen und er ist ausgewichen. Das reinste Chaos. Idan nimmt die kleine auf den Arm. Er bringt sie zu der Polizei, die schon nach ihr gesucht haben. Der Mann ist scheinbar ihr Vater. Jede Hilfe kam zu spät. Sie weint und weint.
Ob sie nun ganz allein in der Welt ist.

Doch Idan kann ihr nicht helfen. So läuft die Welt nicht. Man kann nicht einfach ein fremdes Kind an sich nehmen und es auf ziehen, ohne Papiere oder ähnliches.

Es macht ihn wütend.
Er kann nichts tun.

Aber hat er mit Emi nicht etwas ähnliches getan. Hat er sie nicht auch ausgesetzt? Allein gelassen?

Zu spät für Reue.
Zu spät zurück zu schauen.

Aber ist es das Wert?
Ist die Zeit nicht zu schnell um davor wegzulaufen?

Idan bewegt sich weg von dem Unfallort.
Er verlässt Tokio. Reißt weiter in den Norden. Aufs Land. Hauptsache weg von hier. Hauptsache seine Gedanken werden abgelenkt. Abgelenkt von der bitteren Wahrheit und seinen Fehlern. Seinem falschen Handeln und den Konsequenzen.

Es wird schon alles gut.

Ignoranz, um nicht von Albträumen und einem schlechten Gewissen heimgesucht zu werden.

Ihr letztes Versprechen ~ KEANAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt