5. Begegnung

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Wie gewinnt man etwas zurück, das nicht wirklich verloren aber unauffindbar ist?
Welche Verbindung besteht zwischen Persönlichkeiten, die sich einen Körper teilen?

Emi kannte Noemie nicht. Noemie hat Emi erschaffen. Aber was war der eine Teil ohne den anderen?

Emi versteht nichts davon. Sie weiß nicht was es ihr bringt Erinnerungen zurück zu bekommen, die nicht ihre sind. Sie weiß auch nicht, was all diese Gefühle und Empfindungen sind. Was ist richtig und was ist falsch.

Ihr Herz ist eine weiße Leinwand, die er allmählich in seinen Farben färbt.
Und es tat weh.
Diese Unsicherheit.
Diese Abhängigkeit.
Diese Bedürfnisse.
Das Begehren.
Diese Gefühle wachsen. Bemalen jede einzelne Faser ihres Geistes.

"Erzähl mir von ihr. Was für ein Mensch war sie? Warum liebst du sie?"

Sie tut es für ihn.
Dankbarkeit. Ja das ist wahrscheinlich der Anfang. Eine gewisse Dankbarkeit und der Wunsch etwas zurück zu geben. Vielleicht. Nur vielleicht sind sie und Noemie ja doch ein und dieselbe Person. Für diese Dankbarkeit ist sie bereit sich Schmerzen zu zufügen.

"Sie hatte ein Talent dafür ihre Gefühle ganz offen zu zeigen. Nichts an ihr war verschleiert oder verlogen. Sie war immer ehrlich. Wahrscheinlich würde sie es als Schwäche bezeichnen. Aber ich hab es immer als eine Stärke gesehen. Sie war zerrissen und gleichzeitig strahlte sie in manchen Momenten eine solche Zufriedenheit aus, das man sie beneidete. Man könnte es Herzensfrieden nennen."

"Und das wolltest du fotografieren?"

"Ja. Ihre Augen hatten die Kraft Menschen bis auf die Knochen zu durchschauen. Sie reflektierten die Fehler, die ich versuchte zu verheimlichen."

"Wenn sie so zufrieden war, warum ist sie dann verschwunden?"

"Ich weiß es nicht... Aber ich schätze, dass sie zu gut war für die Welt."

"Ich bezweifle das sie sich genauso sah."

"Sie hasste sich."

"Warum?"

"Vielleicht wegen ihrer Ängste. Vielleicht aber auch weil sie zu hohe Ansprüche hatte oder weil die menschen ihre reflektierende Art nicht ertragen."

Es tut weh. Ihre Geschichte ist so traurig. Emi scheint langsam die Puzzelteile zusammen zu bekommen.

Gefühle sind etwas so komplexes. Manche ertragen sie einfach nicht. Manche wollen ohne sie leben. Noemie wirkt wie ein solcher Mensch.

"Aber du hast es ertragen?"

"Manchmal nicht. Vielleicht hat sie sich deshalb schuldig gefühlt. Wahrscheinlich habe ich sie aber auch einfach nicht verstanden."

Schweigen. Die Schwere erdrückt die Luft.

"Genug davon. Zieh dir ein Kleid an. Wir gehen weg."

Sie will sich bemühen. Für diesen Mann, der gar nicht bemerkte wie traurig seine Augen aussehen. Gezeichnet vom Verlust. Was hat er schon alles verloren.

Sie geht an den Kleiderschrank. Mit den vielen fremden Kleidungsstücken in dunklen warmen Farben. Ein dunkles beerenrotes Kleid springt ihr sofort ins Auge. Tailliert, fließend, leicht und irgendwie warm. Als sie wieder runter kommt steht Idan im Anzug vor ihr.

"Darf ich bitten?"

Sie nimmt seine Hand. Ein leichtes Kribbeln strömt von ihren Fingerspitzen bis hoch zu ihren Schultern.
Neugier in ihren Augen.
Was kommt als nächstes?

Mit dem Auto fuhren sie ein Stück weit in die Stadt hinein.

"Erzähl was von dir."

"Warum?"

"Ich bin neugierig. Außerdem kann ich nichtviel erzählen, da ich mich an nichts erinner. Also erzähl was."

Er runzelt die Stirn. Emi war so anders. Offen. Zielstrebig. Mutig.

"Okay. Ausnahmsweise."

Seine Stimme nahm einen kühlen Ton an.
Die Büchse der Pandora öffnet sich. Etwas das Noemie nicht geschafft hat. In Emis tiefen Inneren zieht sich schmerzhaft alles zusammen. Diese Gefühle gehörten nicht ihr.

"Was willst du wissen?"

"Wie alt bist du?"

"39."

"18 Jahre unterschied. Hat Noemie sich überhaupt bei irgendwas Gedanken gemacht?"

Emi spricht ihre gedanken laut aus, ohne darüber nachzudenken.
Idan zuckt nur mit den Schultern.

"Hast du Geschwister?"

"Ja. Mein Bruder Ciel. Du hast ihn schon kennengelernt. Er ist dein Hausarzt."

Ah der groß gewachsene Mann mit dem mürrischen Blick.

"Warum Fotografie?"

"Weil man damit sowohl Wahrheit als such Illusion festhalten kann."

"Wonach suchst du in deinen Bildern? Welchen Sinn verfolgst du damit?"

"Die Frage nach dem Individuum. Dem ich. Was man dabei empfindet und wie die gegebenen Rollen in unserer Gesellschaft uns verändern."

"Warum?"

"Wie warum? Was ist das den für eine Frage."

"ja warum halt."

"Genug jetzt davon. Wir sind da."

"Aber du hast mir nicht gesagt warum."

"Kein Aber. Steig jetzt aus."

Idan steht mittlerweile schon neben ihr, um die Tür aufzuhalten. Emi gibt sich zufrieden. Vorerst. Sie betreten ein Großes Gebäude. Weit und breit niemand außer ihnen. Eine große geschwungene Treppe führt hoch in den Hauptsaal. In der einsamen Leere spielte leise Musik.

"Tanz mit mir."

Idans Stimme richtet sich dunkel an sie.

"Ich hab noch nie getanzt."

Schulterzuckend dreht sie sich von seiner ausgestreckten hand weg.

"Doch und zwar genau hier."

Sie schaut sich erneut um. Aber egal wie oft sie über den dunklen Parkett und die hohen weißen Wände mit den großen gebogenen Fenstern und den kleinen Nischen sieht. Nichts. Da ist nichts.

Traurig lässt Idan seine Hand fallen.
Was soll sie nur machen?
Es zieht in ihrer Brust. Rund um ihr Herz ein beklemmendes Gefühl. Sie macht einen Schritt auf ihn zu. Ihr Herz rasst, während sie versucht ruhig zu atmen.

"Okay ich versuchs."

Als hätte er nur darauf gewartet reißt er sie an sich. Legt seine Hand auf ihren Rücken und beginnt sie zu drehen. Runde für Runde drehen sie in dem riesigen Raum. Sie lässt sich einfach gleiten. In seinen Armen hat sie ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit. Auch wenn ihr Herz zu explodieren scheint. Antagonistisch. Die Furcht und die Wärme. Die Sehnsucht und die Verzweiflung.
Sie ließ alles einfach so druch ihren Körper fließen. Bis sie irgendwann keine Luft mehr bekommt. Sie hat einfach vergessen zu atmen.

Nach Luft ringend halten sie an.

"Siehst du du kannst es noch."

Nicht noch. Eher auch.
Beruhigend legt sie ihre Hand auf ihre Brust, da wo sie ihr Herz vermutet. Es tut weh für jemand anderes gehalten zu werden. Es tut weh nur einen Menschen auf der Welt zu kennen, der einen noch nicht einmal sieht. Es tut weh. Emi versteht das Gefühl des Schmerzes allmählich.
Tränen fließen ihre Augen herunter.
Ihre Füße tragen sie weit weg von ihm.
Weit weg.

Ihr letztes Versprechen ~ KEANAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt