31. Moment

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Eine Woche ist rum. Sie sitzt erneut in dem hellen großen Raum auf dem weichen Sofa.
Idan war ziemlich erstaunt, dass sie diesmal keine Angst hat. Er hat nicht nachgefragt, wie es gelaufen ist oder über was sie geredet haben. Auch wenn er neugierig ist. Brav bringt er sie hin und holt sie ab.

"Wie war Ihr Tag?"

Eigentlich findet Noemie es merkwürdig von Weber gesiezt zu werden, doch es ist ein notwendiger Aspekt, um den Abstand zu wahren. Wenn man diesen Puffer verliert dann geht einem der Patient zu nahe. Und es kann sein, dass man selbst den Patienten belastet.

"Normal nichts Besonderes."

"Wie sieht denn ein normaler Tag bei Ihnen aus?"

"Meistens steh ich gegen halb 10 auf. Putze, koche, gehe spazieren oder manchmal einkaufen. Und ich arbeite an meinen Kunstprojekten."

"Kunstprojekte?"

"Mein Mann ist Fotograf und Künstler. Er hat ein riesiges Atelier und ein großen Dachboden mit allerlei Bildern und Utensilien. An diesen Orten bin ich am liebsten. Dann zeichne ich oder male oder forme Sachen aus Ton. Ich versuch mich zu verbessern und immer neue Techniken zu lernen, also lese ich dann auch viel."

Noemies Augen fangen förmlich an zu leuchten, während sie von Dingen erzählt, die sie liebt.

"Und haben sie Ihre Hausaufgabe gemacht?"

Hausaufgabe hört sich so an als wäre sie wieder 16 und in der Schule. Es weckt Erinnerungen, weder gut noch schlecht einfach nur nostalgisch.

"Ja es war zwar nicht einfach, aber ich habe darüber nachgedacht."

"Und was ist es, das Sie sich wünschen? Das Sie brauchen oder einfach wollen?"

Noemie weiß diese Frau wertet die Dinge nicht, die man ihr erzählt. Trotzdem ist es ihr etwas peinlich. Die Worte kommen einfach nicht raus.

"Fangen Sie doch einfach mit irgendeinem Punkt an."

"Ich würde gerne eine Ausbildung oder ähnliches machen, damit ich Idan nicht so belaste."

Weber nickt kurz, schreibt sich etwas in Gedanken auf und rückt ihre Gläser zurecht.

"Was ist das nächste?"

"Ich will Idan gerne noch besser verstehen, um ihm noch näher zu kommen und ihn glücklich zu machen."

"hm."

Weber denkt nach. Streicht sich die Haare hinters Ohr, überschlägt die Beine und setzt sich aufrecht hin.

"Noemie was war die Hausaufgabe?"

Sie versteht nicht so recht. Legt ihren Kopf schief. Ihre Haltung ist beinahe konträr zu Webers. Mit den Armen neben den Oberschenkeln abgestützt den Körper ungeduldig nach vorne gebeugt.

"Ich sollte 3 Dinge aufschreiben die ich mir wünsche, brauche oder will."

"Genau. Aber alles, was sie bis jetzt gesagt haben, wollen sie nur wegen Idan und nicht Ihretwegen. Die Aufgabe bezog sich auf Dinge, die Sie für sich wollen."

Noemie ist gar nicht aufgefallen, dass sie anscheinend nur über ihn nachgedacht hat.

"Fangen wir nochmal von vorne an."

Weber lächelt ihr aufmunternd zu.

"Also Noemie was wollen Sie für sich?"

Sie zögert.

"Sagen sie einfach das erste, was ihnen einfällt. Ohne groß nachzudenken."

"Geliebt werden."

Das ist das Erste, was ihr einfällt. Sie hat es so noch nie gesagt. Zu egoistisch, dachte sie immer.

"Gut. Und was noch?"

Weber hat eine interessante Art Menschen dazu zu bringen sich zu öffnen. Sie scheint viel zu gut gelaunt, zu positiv für ihren Beruf. Doch es tut gut.

"Etwas das bleibt."

"Geht das noch genauer? Versuchen Sie es in ein Bild zu fassen."

"Etwas das mir gehört. Ganz sicher mir. Für das ich die Verantwortung trage.."

"So wie ein Haustier?"

"Nein.. Viel mehr wie ein Kind."

Es ist ihr peinlich Wünsche zu äußern.
Sie läuft rot an und wird ganz still.

"Sehr gut. Weiter so. Es fehlt nur noch eine Sache. Ich bewerte nichts, was Sie sagen. Das sind einfach ihre Gedanken. Und es ist gut und wichtig, dass Sie sich verstehen."

"Leben. Ich will leben."

Noemie hasst es, dass sie so emotional ist. So nah am Wasser gebaut. Aber endlich mal zu erwähnen, was man will. Es von sich selbst und auch von anderen zu fordern ist so befreiend.

"Und das dürfen sie auch."

Dürfen?
Ja sie darf leben.
Noch viel mehr es gibt Menschen, die auch wollen, dass sie lebt.
Warum hat sie es nie verstanden?
Warum kann sie diese Gefühle nie akzeptieren?
Warum hat es so lange gedauert sich selbst das Recht auf Leben zu zusprechen?
Und jetzt auch noch die erlösende Bestätigung es von jemand anders zu hören. Wie sehr sie sich das ihr ganzes Leben gewünscht hat.
Zu hören, dass sie es darf.
Das ihre Existenz eine Berechtigung hat.
So oft hat sie darauf gewartet, dass jemand ihr die Erlaubnis gibt.

"Danke.."

Weber hält ihr eine Packung Taschentücher hin, doch Noemie wischt sich die Tränen lieber mit dem Ärmel ihres Pullis ab.

Sie versteht endlich, warum sie so ein Drang nach Bestätigung hat. Da jedes Lob, jedes gute Wort für sie wie eine Erlaubnis war noch etwas weiter zu leben. Denn egal wie oft sie sich selbst versuchte diese Befugnis zu geben, es hat nicht gereicht. Manchmal gibt es Sachen, die wir erst laut aussprechen müssen. Die erst jemand anders für uns sagen muss oder von uns erfragen, damit wir es endlich schaffen anzuerkennen.

"Weiß Idan davon?"

Noemie schüttelt den Kopf.

"Haben sie schon mal versucht ihm es zu erklären?"

"Ich habs ja selbst bis eben nicht verstanden."

Weber erfasst immer mehr, welche Art von Mensch sie vor sich sitzen hat. Sie kann kaum erahnen, was in ihrem Leben schon passiert ist. Doch die Vergangenheit ist nicht wichtig um die Gegenwart oder die Zukunft zu ändern. Wichtig ist genau zu begreifen, wen man gegenüber hat. Was diesen Menschen beschäftigt und ihm zu helfen sich selbst im richtigen Licht zu sehen.

"Ihre nächste Hausaufgabe ist Idan verständlich zu machen, was Sie wollen. Lernen Sie Ihre Wünsche zu äußern und erlauben Sie sich selbst solche zu haben."

"Das klingt so leicht, aber -"

"Versuchen Sie es einfach. Das ist alles eine Sache der Übung. Je öfter Sie das notwendige einfordern desto leichter wird es Ihnen beim nächsten Mal fallen."

Sie hat Recht.
Es gelten keine Ausreden.
Noemie muss anfangen, um etwas zu ändern. Die Umstände ändern sich nicht von selbst.

Ihr letztes Versprechen ~ KEANAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt