32.Wiederkehrende Albträume

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Langsam hallten meine Schritte von der hohen, steinernen Decke wieder. Erst als ich unter meinen Schuhsohlen einen weichen Untergrund bemerkte, endete das gleichmäßige Geräusch. Verwirrt blickte ich nach unten und bemerkte den dunkelblauen Teppich mit den Kronen und Sternen an den Seiten. Misstrauisch zog ich meine Augenbrauen zusammen und ließ meinen Blick durch den riesigen Raum schweifen. Überall an den Wänden aus hellem Gestein erkannte ich teilweise mannshohe Gemälde und Malereien. Und von den unzähligen Kerzen aus Wandhalterungen und Kronleuchtern ging ein goldenes Licht aus. Doch anders als ich es aus beispielsweise Hogwarts kannte, spendete der Flammenschein kein warmes Gefühl. Eine eiskalte Gänsehaut kroch langsam meine Wirbelsäule entlang, zunehmend hatte ich die dumpfe Vermutung beobachtet zu werden. Mit einer langsamen Bewegung wandte ich mich um und erblickte einen gewaltigen Türbogen, hinter dem es ins Freie ging. Einige Hecken und Bäume waren in dem schwachen Mondlicht der Nacht zu erkennen.
„Bei Hellmir", hauchte ich beinahe geräuschlos. Denn erst jetzt hatte ich realisiert, dass ich mich in dem Gang zu unseren Gärten befand. In diesem Moment stand ich in meinem Zuhause in Hellmir, in dem Schloss, wo ich aufgewachsen war. Kurz war ich davor erfreut aufzulachen, da ich endlich wieder daheim war. Doch beinahe im selben Moment zerplatzte meine Traumblase und mir viel ein, warum ich überhaupt fortgehen musste. Die Bedrohung, meine Flucht und Verfluchung, Hogwarts, Albus Tod, unser wiederholtes Untertauchen.
Doch warum war ich dann hier in Hellmir? Wie kam ich hierher?
Ein dumpfes Geräusch ertönte hinter mir und ließ mich zusammenfahren. Ruckartig drehte ich meinen Kopf in die Richtung. Aber da war nichts. Ich war die einzige Person weit und breit in diesem Gang. Unsicher, was ich machen sollte, drehte ich mich wieder in Richtung der Gärten um, als mir ein kleiner erstickter Schrei aus der Kehle kam.
„Nein, das kann nicht sein", murmelte ich fassungslos und umfasste meinen Hals. Doch statt üblicherweise das Medaillon mit dem Familienfoto zu fühlen, war da nichts weiter als meine Haut.

„Hast du mich vermisst, Schwesterherz?"

Ungläubig musterte ich die Statur meines Gegenübers, wie er da stand in seinem traditionellen Anzug, das Jackett wie immer geöffnet. In seiner rechten Hand, welche er auf Höhe seines Herzens hielt, schwang meine Kette mit dem Anhänger unruhig hin und her.
„Alex", wisperte ich fassungslos und betrachtete sein Gesicht. Jedoch anders als ich es in Erinnerung hatte, lagen seine Augen und Wangen eingefallen im Schädel und seine sonst so leuchtenden Augen blickte mich starr und tot an.
„Das du dich noch traust hier aufzukreuzen, nach allem was du angerichtet hast", kam es kalt von meinem Bruder und versetzte mir einen gewaltigen Schlag in die Magengrube. Fassungslos schüttelte ich meinen Kopf und schielte zwischen ihm und der Kette hin und her.
„Du bist nicht wirklich da, du bist gestorben. Vor meinen Augen", sprach ich entsetzt und blickte zu der Stelle des Hemdes, an der mir erst jetzt der gewaltige Blutfleck auffiel. Unbeeindruckt und gefühlskalt blickten auch seine Augen zu der Stelle und warfen mir dann einen mörderischen Blick zu.

„Du bist Schuld! Eine Schande für die Familie, das bist du! Erst sterbe ich wegen dir und dann bringst du Unheil über die Familie! Nicht ich hätte sterben sollen, sondern du!"

Jedes seiner Worte fühlte sich wie scharfe Klingen an, die sich in mein Herz bohrten und immer wieder zu stachen.
„Nein ... ER hat dich erstochen. Ich wollte dich retten, Alex. Du bist in meinen Armen gestorben", versuchte ich ihn daran zu erinnern, auch wenn ich wusste, dass es sinnlos war.
„Die Thalia, die ich kannte, hätte soetwas nie zugelassen. Du bist nur das pure Übel, ein dunkler Engel. Wie viel Schmerz willst du Mutter und Vater noch bereiten?"
„Bitte hör auf, Alex", flehte ich ihn an, als ich bemerkte, wie er näher kam.
„Wer sind deine nächsten Opfer? Vielleicht Levanna oder Naomi, oder doch Leon?", fuhr er unbeirrt fort. Mittlerweile hatte ich begonnen rückwärts zu laufen. Ich hatte panische Angst, denn das war nicht der Alexander, den ich kannte.
„Wen wirst du als nächstes in das Totenreich zerren?"
Unablässig flossen die Tränen über meine Wangen und verschleierten leicht meine Sicht.
„Alex bitte nicht. Ich habe nichts getan", wimmerte ich aus Angst und ging weiterhin rückwärts. Ruckartig stoppte Alex vor mir, seine toten Augen weiterhin auf mich gerichtet. Uns trennten noch etwa drei Meter, doch innerhalb eines Wimpernschlages stand er ganz dicht vor mir. Erschrocken zog ich die Luft ein und blickte ihm genau in das Gesicht. In seinen leeren, regungslosen Augen konnte ich mein blasses Gesicht erkennen.
„Und das war dein Fehler", hauchte Alex bedrohlich. Ehe ich begreifen konnte, was er als Nächstes vor hatte, war es auch schon passiert. Mit einer unmenschlichen Kraft und Schnelligkeit, rammte er seine rechte Hand in meinen Brustkorb und zog sie wieder hervor. Schmerzerfüllt stöhnte ich auf und blickte auf das groteske Bild, was sich mir bot. Alexander starrte mich weiterhin durchbohrend an, während in seiner Hand mein Herz lag. Über seine Finger und Unterarm floss das Blut hinab und tropfte zu Boden. Doch auch mein Medaillon war blutgetränkt und schimmerte nun blutrot statt silbern.
„Warum?", krächzte ich und presste kraftlos meine Hände auf die Brust. Dabei spürte ich das warme Blut zwischen meinen Händen hervortreten. Ich bemerkte zunehmend, wie sich meine Sicht trübte und wie meine Beine nachgaben. Wie ein Stein sackte ich zu Boden und konnte nur noch Alex Schuhe sehen. Schwarze Punkte erschienen an meinem Blickfeldrand und meine Finger und Zehen fühlten sich eiskalt an. Nur noch unterschwellig nahm ich wahr, wie sich Alexanders Gestalt sich vor mich hinhockte und mich mit meinem Herz in der Hand musterte.
„Man muss das Monster zur Strecke bringen, bevor es an Macht gewinnt. Du bist Schuld an meinem Tod. Nun sind wir quitt."
Da verschluckte mich die Dunkelheit und ich fiel in sie hinein.

Engel der Finsternis (II.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt