33.Belastende Gedanken

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Viel zu schnell verflogen die Tage, die Temperaturen fielen weiter ab und auch das Wetter wurde immer verschneiter und dunkler. In meinen Wintermantel eingekuschelt saß ich auf einem Stuhl am Eingang des Zeltes und betrachtete mit reglosem Gesicht das Schneetreiben draußen. Dieses hatte vor etwa zwei Tagen angefangen und war irgendwann so stark geworden, dass wir es für das Beste hielten, die Trainingsstunden mit Harry auszusetzen. Im Inneren des Zeltes wäre dies zu gefährlich gewesen.
Mit dem schwarzhaarigen Jungen hatte ich mich nach dem Gespräch langsam wieder verstanden. Auch wenn seine Worte im Streit mich immer noch verletzten, wenn ich daran dachte, so wusste ich, dass es ihm ehrlich leid tat. Und die Zeit war momentan zu unbeständig, als das wir als gespaltene Gruppe hier draußen waren.
„Ich mache mir Sorgen Leon", hörte ich die leise Stimme von Hermine aus dem Schlafbereich des Zeltes. Ein kaum hörbares Geräusch ertönte, was meine beste Freundin dazu anhalten sollte leiser zu reden.
„Hermine hat aber recht", mischte sich nun Harry ein, jedoch leiser als Mine.
„Ich verstehe euch doch. Mir ergeht es auch nicht anders. Aber wir können nichts dagegen unternehmen. In all den Jahren hat niemand etwas gefunden, was hilft. Selbst Samira konnte sie nicht daraus holen. Und sie ist ihre Beschützerkatze", antwortete nun mein bester Freund ihnen. Anhand des leisen Knarrens der Bodendielen erkannte ich, dass Leon nun auf und ab ging. Eine Angewohnheit von ihm, seit er klein war. Aus dem Schlafbereich hörte ich, wie jemand etwas sagte, jedoch war es zu leise, als das ich es verstehen konnte.
„Das musst du sie fragen. Wenn, erfährst du es nur von ihr", kam es von meinem besten Freund. Kurz darauf setzten sich die drei in Bewegung und kamen wieder in den Hauptbereich des Zeltes. Durch ein unangenehmes Kribbeln im Nacken wusste ich, dass ich von ihnen beobachtet wurde, selbst als sie sich an den Tisch setzten. Nur ein Paar Schuhe kam in meine Richtung und blieb schlussendlich neben mir stehen.
„Alles gut soweit, Lia?", hörte ich Leons besorgte Stimme und wie er sich neben mich hockte. Langsam wandte ich meinen Blick von dem Schneegestöber da draußen ab und blickte in seine blauen Augen. Zögernd nickte ich und versuchte mir, das belauschte Gespräch nicht anmerken zu lassen.
„Es muss", erwiderte ich mit trockener Stimme und griff deswegen nach meiner Tasse mit Kräutertee. Den hatte mir Hermine vor ihrer Diskussion mit den Jungs gebracht.
Ein leises Seufzen kam aus Leons Kehle und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie er kurz nach hinten zu den anderen beiden schielte.
„Bist du dir sicher, dass du das Ritual heute Abend trotzdem abhalten willst?"
„Ja", kam es einsilbig von mir und blickte hinab auf meine Kette, die ich mit einer Hand umklammert hielt. Doch richtete sich meine Aufmerksamkeit nicht auf den Anhänger, sondern viel mehr auf den Ring an meiner Hand. Das silberne Schmuckstück trug ich seit dem letzten Weihnachtsfest ununterbrochen. Man könnte beinahe meinen, dass er schon zu einem Teil von mir geworden war und ich ihn nicht mehr so oft wahrnahm. Doch wenn mein Blick auf den silbernen Ring mit der Wolfspfote und den beiden Sternen fiel, dann verspürte ich einen kurzen Moment von Wärme. Ein Gefühl, was ich so nur verspürt hatte, als Alex noch bei uns war.
Als ich zur Seite blickte, bemerkte ich, dass Leon bereits verschwunden war. So sehr war ich von meinen Gedanken eingenommen worden, dass ich sein Verschwinden nicht wahrgenommen hatte.
Bei Hellmir, ich verfluchte mich selber dafür. Für mein Verhalten momentan, dass ich alle zurzeit allein ließ und immer noch in der Vergangenheit lebte. Es war ein großes Laster meinerseits. Das ich nicht abschließen und somit den letzten Wunsch meines Bruders erfüllen konnte. Wie lange soll das noch so weiter gehen?

Die Sonne war bereits seit einigen Stunden hinter dem Horizont verschwunden und hatte auch den kleinen Schneesturm mit sich genommen. Nur ein paar kleine Wolken erinnerten noch an das große Schneetreiben vom Tag über und die dichte Schneedecke auf dem Plateau. Vor wenigen Minuten hatte ich das Kleid von unserer letzten Zeremonie angezogen und strich mit zittrigen Fingern über den vertrauten Stoff. Auch Leon hatte sich den schwarzen Anzug aus Hellmir angezogen, der aus einer schwarzen Stoffhose sowie Hemd und Weste bestand. Harry und Hermine betrachteten uns währenddessen aus neugierigen Augen, besonders der dunkelhaarige Junge, da uns das erste Mal in unserer ‚normalen' Kleidungsweise sah und von diesem Ritual mitbekam.
„Die Zeit ist ran, Prinzessin Thalia", erinnerte mich Leon und blickte mich aufmerksam an. Es war wieder einer der wenigen Situationen, wo er meinen Titel mitbenutzte als Respekt vor unserer Heimat und meiner Familie. Verstehend nickte ich ihm zu und schritt auf den Ausgang des Zeltes zu. Kaum hatten meine Füße den knirschenden weißen Untergrund berührt, kroch die Kälte unter meinen dunklen Mantel. Gemeinsam mit Leon an meiner Seite und begleitet von Harry und Hermine, die sich ebenfalls dunkel gekleidet hatten, trat ich in die Nähe der Felskante. Die Geste meiner Freunde empfand ich als rührend. Sie mussten es nicht tun, da sie keinen Bezug zu Alex hatten und doch taten sie es für Leon und mich.
Als sich vor mir das verschneite Tal erblickte, konnte ich nicht anders, als zu schlucken. In dem Fluss spiegelten sich die unzähligen Sterne vom Firmament und der Schein der Himmelskörper erzeugten mit dem Schnee ein schon beinahe magisches Leuchten. Der Gedanke an die Sterne versetzte mir kurz einen altbekannten Stich im Herzen, da sie doch ein Teil von Alexanders magischen Fähigkeiten waren. Kurz huschte mein Blick auf die eingravierten Sterne von dem Ring, der einst meinem Bruder gehört hatte. Ein letztes Mal holte ich tief Luft, bevor ich wie letztes Jahr das ‚Leid des Herzens' anstimmte und für meinen Bruder sang.
Als ich endete, blickte ich vom Sternenhimmel zu Leon, der mir einen bestärkenden, dennoch betrübten Blick schenkte.
„Wunderschön gesungen, Prinzessin Thalia", meinte Leon und wandte sich nach hinten um. So ganz verstand ich diese Bewegung nicht, doch hatte ich auch nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Blitzschnell huschten von links und rechts hellblau glühende Lichtkugeln an uns vorbei und stiegen hinauf in die Höhe. Dort nahmen sie die Gestalt eines Hirsches und eines Otters an. Gemeinsam stiegen sie immer weiter empor zum Himmel, ehe sie nach und nach verblassten und sich schlussendlich auflösten. Während dieses Anblickes hatte ich gar nicht bemerkt, wie ich begonnen hatte zu weinen. Flink wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und wandte mich zu meinen Freunden um, die mich aufmunternd anlächelten. Ohne zu zögern, zog ich die beiden in eine Gruppenumarmung und hielt sie dabei fest.
„Danke euch beiden. Ihr habt damit diesen Tag unvergesslich gemacht. Wie seit ihr auf die Idee gekommen?", wandte ich mich mit einer immer noch unsicheren Stimme an sie. Dabei bemerkte ich zum einem, wie sie meine Geste erwiderten und mich umarmten, aber auch das mir noch die ein oder andere Träne über die Wange rollte.
„Es war Leons Idee. Er wollte, dass du für deinen Bruder eine gebührende Zeremonie hast", antwortete Hermine mir und tätschelte mir leicht die Schulter. Überrascht blickte ich auf und konnte geradewegs in das Gesicht meines besten Freundes blicken. Leicht schmunzelnd betrachtete er uns, während er Samira auf dem Arm trug.
„Danke", hauchte ich beinahe geräuschlos und schenkte ihm ein glückliches Lächeln.
„Gern geschehen, Prinzessin", erwiderte er ebenso leise und blickte empor zum Sternenhimmel. Ich tat es ihm gleich und betrachtete die unzähligen Himmelskörper, die in dieser Nacht irgendwie heller zu leuchten schienen.

Engel der Finsternis (II.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt