42.Shell Cottage

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Jede Faser meines Körpers reagierte auf etwas in mir, doch nicht auf mich selbst. Es war, als wäre ich lediglich ein einsamer Zuschauer in einem Schauspiel, was grausame Ausmaße annahm. Ich spürte, dass meine Beine und Arme sich bewegten, dass aus meinem Rücken die tiefschwarzen Flügel gewachsen waren. Doch ich hatte keinerlei Anspruch mehr auf sie.

Hellmirs Geist, hilf mir!

Beinahe jede Sekunde schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, in der Hoffnung, dass irgendetwas geschah. Und das tat es auch, nur nicht so, wie ich es wollte. Langsam, ähnlich wie eine Raubkatze bewegten sich meine Beine und liefen geschmeidig auf einen der Lichtkegel zu. Innerlich sträubte ich mich dagegen, doch bemerkte ich gleichermaßen die ungeheure Anziehungskraft. Diese Kraft, die mich zu dieser grellen Silhouette zog, als würde sie nach mir rufen. Mit jedem weiteren Schritt spürte ich, wie meine Zweifel und Gegenwehr in den Hintergrund rückten. Ebenso, wie die dumpfen Geräusche meiner Umgebung.

Du spürst es. Fühlst es in deinen Adern, die Geborgenheit, das Verlangen. Lass mir dir helfen, lass mich uns helfen einen Ausweg zu finden.

Die wohlige Stimme umschmeichelte meinen Geist, vernebelte mir meine Sinne. Sie klang mir so vertraut, als würde ich sie mein Leben lang schon kennen.

Thalia, du musst so nicht leben. Ich kann uns helfen. Gemeinsam finden wir einen Weg zurück nach Hause.

Nach Hause ... nach Hellmir. Zu meiner Familie.

Immer weiter schalteten sich meine Sinne und langsam auch mein Verstand ab, wurden automatisiert.

Ganz genau, nach Hause. Wir können wieder zurück zu unserer Familie. Aber wir sind nicht stark genug. Wir brauchen Kraft. Und sie liegt direkt vor uns.

Ein unsanfter Ruck ging durch meinen Körper. Er dauerte nur einen kurzen Augenblick an, doch schenkte er mir einen Moment der Klarheit. In meinem Unterbewusstsein hörte ich ein Knurren.

Handel jetzt, oder die Chance auf unser Zuhause ist versiegt, Thalia. Gib mich frei, schenke mir für einen Augenblick die vollständige Kontrolle.

Ich spürte, wie das Heimweh in mir aufkeimte. Es war immer da, doch in diesem Moment wurde es unerträglich stark.

Nur ein kleiner Augenblick. Dann können wir zurück, Thalia.

Ein kurzer kühler Schauer überrollte meinen Körper und sofort klärte sich mein Geist.

Was um Hellmir tat ich hier?

Nein!

Innerlich erschrak ich wegen dem tiefen Knurren, doch hatte ich keine Sekunde Zeit, um mich damit zu beschäftigen. Weitere Geräusche gesellten sich dazu und erzeugten ein unübersichtliches Wirrwarr an Geräuschen. Ich spürte, wie sich etwas in meinem Körper veränderte. Doch was es war, konnte ich nicht sagen. Nur, dass es eine unheimliche Leere hinterließ und mir meine Sinne und Kontrolle wiedergab.
Düstere Schatten durchzogen mein Sichtfeld und ein flaues Gefühl bildete sich in meiner Magengrube. Ich hatte keinen Anhaltspunkt, ob ich mich bewegte oder meine Umgebung. Doch erhielt ich nach wenigen Augenblicken meine Antwort.

Mit einem harten Aufprall landete ich auf nassen Sand. Schwer atmend versuchte ich mich zu beruhigen, denn mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Ich bin ein Teil von dir, Thalia.

Die zuvor schmeichelnde Stimme klang nun eiskalt und hallte nur ganz leise in meinen Ohren nach.
„Lia!", hörte ich jemand einen Namen rufen. Erst nach kurzen Überlegen verstand ich, dass ich gemeint war.
„Thalia, mach die Augen auf, bitte!", sprach die verzweifelt klingende Stimme mit mir. Warme Hände umschlossen mein Gesicht, ehe sie zu meinen Schultern wanderten. Mit einem bestimmenden Ruck saß ich auf dem nassen Untergrund, während mein Kopf gegen eine Schulter gebettet wurde.
Erst da bemerkte ich, wie kalt mein Körper war. Im Gegensatz zu der Person, die mich festhielt, wirkte ich wie Eis. Meine Muskeln fühlten sich schwer an und wollten mir nicht so recht helfen.
„Wach auf, Lia. Bitte wach auf", wisperte eine tiefe Stimme und wiegte sich sanft mit mir hin und her. Ich wollte auf mich aufmerksam machen, wollte demjenigen sagen, dass ich da war. Doch fühlte sich mein Körper ausgelaugt und schwach an. Es war erdrückend, denn ich nahm alles um mich herum wahr. Das leise Rauschen des Windes, das entfernte Plätschern von Wasser und die unterschiedlichen Stimmen. Sie wirkten verzweifelt und traurig, denn ich hörte ab und zu Schluchzer und erstickte Worte.
Ich wollte wissen, was passiert war. Wo war ich? Was war passiert?
Doch gehorchten mir meine Augen nicht und ich spürte, wie die letzte Kraft aus meinem Körper wich. Sanft umarmte mich ein merkwürdiges Gefühl und riss mich fort aus der Realität in unendliche Dunkelheit.

Engel der Finsternis (II.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt