30.Tiefgreifende Erklärung

55 9 3
                                    

Konzentriert blickte ich nach vorn, direkt in Harrys Augen hinter den Brillengläsern. So wie ich sah er auch zu mir aufmerksam herüber. Keiner von uns gab auch nur einen Mucks von sich, bis ein scharfes Zischen die Luft durchschnitt. Es war der rote Schockzauber, der sich ungesagt aus der Spitze meines Zauberstabes gelöst hatte. Schnell duckte sich der dunkelhaarige Junge unter der Lichtkugel hinweg und blickte mich kurz überrascht an. Kaum einen Moment später schoss ein helles, blassviolettes Licht auf mich zu.
Protego, dachte ich konzentriert und fuhr die dazugehörige Armbewegung aus. Sofort wurde Harrys Entwaffnungszauber von meinem Schild abgeblockt. Mein Gegenüber hatte also geübt und seine Fähigkeiten in den ungesagten Zaubern verbessert. Lange konnte ich darüber jedoch nicht nachdenken, da schon wieder ein Zauber auf mich zukam. Das rote Glühen des Schockzaubers kam immer näher und ich musste ausweichen, um nicht getroffen zu werden. Schnell suchte ich in meinem Gedächtnis nach einem eher unbekannteren Zauber und erinnerte mich an einen, den mir Hermine vor einiger Zeit beigebracht hatte.
Obscuro, sprach ich in Gedankten und vollführte eine kreisende Bewegung auf der Höhe meiner Augen, ehe ich die Spitze in Harrys Richtung schießen ließ. Augenblicklich schlängelten sich schwarze Bänder aus meinem Zauberstab und verbanden die Augen meines Gegenübers in weniger als einer Sekunde. Verwirrt und überrumpelt von der plötzlichen Blindheit griff sich Harry an die Schläfen und versuchte, die magische Augenbinde zu lösen, jedoch erfolglos. Ganz in seine Befreiung vertieft, vergaß der Junge vor mir, seine Deckung aufrecht zu halten. Ganz zu meinem Vorteil.
Petrificus Totalus, sagte ich in Gedanken und schoss mit einer drehenden Handbewegung den Ganzkörperklammerfluch auf Harry. Starr wie in Eis gehüllt, viel der Junge mit der Blitznarbe in einer mehr als geraden Haltung auf den Boden.
Damit war das Freundschaftsduell beendet und ich blickte zu Hermine und Leon. Während mich meine beste Freundin begeistert ansah, schaute mein Beschützer mich anerkennend an. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen überwand ich den Abstand zwischen Harry und mir und richtete meinen Zauberstab auf seinen Körper.
Finite", murmelte ich mit leiser Stimme und sofort verschwand sowohl die Augenbinde, als auch der Klammerfluch. Noch etwas überrumpelt blinzelte Harry gegen das Licht an, ehe er sich aufsetzte.
„Gutes Duell, Thalia. Das muss ich zugeben. Aber was war das für ein Zauber?", fragte er mich, als er sich schlussendlich auch wieder aufrappelte.
„Das ist ein Sicht-Hinderungs-Zauber. Kaum wirklich bekannt, aber doch ganz nützlich. Hermine hatte ihn mir vor einer Weile beigebracht", erwiderte ich und verstaute meinen Zauberstab wieder an der Gürtelhalterung.
„Den muss ich mir merken", meinte Harry und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Es gibt so einige Zauber, die du nicht kennst aber sehr sinnvoll und nützlich sind", mischte sich Hermine ein. Dabei bedachte sie ihren besten Freund mit einem belehrenden Blick. Beschämt, weil er genau wusste, was Hermine damit andeuten wollte, blickte der dunkelhaarige Junge zu Boden.
„Ja Hermine", kam es leise aus seiner Richtung.
Zufrieden nickte Hermine und rieb sich fröstelnd die Hände. Während unserer Übung hatte ich das raue Wetter nicht so wirklich wahrgenommen. Doch nun bemerkte ich, wie die schneidend kalte Luft in meinen Mantel kroch und eine Gänsehaut hervorbrachte.
„Ich glaube, wir sollten für das erste wieder herein gehen. Bitte", meinte ich mit leicht zitternder Stimme und vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Von den anderen kam lediglich ein erleichtertes Nicken, bis auf Leon, der uns belustigt musterte. Jedoch gab er keinen Kommentar ab, was wahrscheinlich auch besser war.
So machten wir uns nach unserem kurzen Aufenthalt draußen wieder auf den Weg in das Innere des Zeltes. Dort schürte Leon das Feuer in dem Ofen mit einer kleinen Flamme. Wenig später war der Raum herrlich warm und ließ mich wohlig seufzen.
„Thalia, was musst du eigentlich noch können? Ich war ja gestern nicht bei eurem Gespräch", ertönte auf einmal Harrys Stimme, während er sich auf einem Stuhl nahe des Ofens niederließ. Wie Hermine es vormachte, zog auch ich einen Stuhl an den Ofen und ließ mich dort nieder. Leon hingegen lehnte sich gegen die kühlen Herdplatten.
„Kurz gesagt muss ich das sogenannte Seelenbuch beschwören und lesen, sowie Seelen in eines der Totenreiche geleiten und Schicksalsfäden lesen können. Ebenso muss ich die Geschichten Verstorbener vor meinem inneren Auge projizieren können", antwortete ich ihm. Doch während meiner Aufzählung bemerkte ich, wie die grünen Augen von Harry merkwürdig anfingen zu leuchten.
„Kannst du ... ich meine, sind meine Eltern in einer dieser Welten?"
Verwirrt über seine Frage zog ich meine Augenbrauen zusammen.
„Jede normale Seele eines Verstorbenen landet früher oder später entweder in der Hölle oder im Himmel. Als meine Schwestern noch nicht dafür zuständig waren, mussten die Energien der Toten meist sehr lange warten, ehe sich ihr Weg offenbarte. In manchen Kulturen der Muggel würde man es Karma oder Waagschale des Todes nennen. Die positiven oder eben die negativen Entscheidungen haben den Weg bestimmt. Aber wieso fragts du mich das? Eigentlich weißt du das doch?"
Für eine Weile war es still geworden, nur das Knistern des Feuers war sanft im Hintergrund zu hören. Während ich starr zu meinem Gegenüber blickte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie Hermines und Leons Kopf zwischen uns hin und her schwankte. Einzig und allein Samira hatte ihren Kopf auf den Holzboden gebettet und ließ sich die Wärme des Ofens auf ihr Fell strahlen.
„In meinem vierten Jahr, beim Trimagischen Turnier, habe ich dir doch von der letzten Aufgabe erzählt. Der Irrgarten mit den versteckten Kreaturen und dem Portschlüssel?", begann Harry leicht verunsichert und sah mich abwartend an. Kurz zuckte die Erinnerung an dieses Gespräch vor meinem geistigen Auge vorbei, was mich zu einem knappen Nicken veranlasste.
„Du bist zusammen mit diesem Cedric auf einem Friedhof gelandet."
„Wurmschwanz hat ihn auf seinen Befehl hin umgebracht und nach diesem ... Ritual die Todesser herbei gerufen. Jedenfalls als es zu dem Duell zwischen mir und Du-weißt-schon-wer kam, sprangen einige Lichtkugeln aus seinem Zauberstab hervor. Zum einem die eines ermordeten Muggels, Cedric ... und meine Eltern. Ich will nur wissen, ob sie wirklich da waren. Bei mir auf diesem Friedhof in diesem Moment. Das beschäftigt mich seitdem, Thalia. Und ich will einfach nur eine Antwort darauf haben", fuhr der dunkelhaarige Junge fort und fuhr sich gestresst durch das Gesicht. Er vermied es, sowie wir alle seit dem Beginn unserer Flucht, Du-weißt-schon-wer beim Namen zu nennen. Bei Hellmir, wer wusste schon, ob dies Folgen haben könnte. Nicht nur Harry, sondern auch Hermine und Leon sahen mich nun aus großen abwartenden Augen an. Obwohl mein Beschützer eigentlich die Grenzen meiner Fähigkeiten kannte, hoffte auch er, dass es Wege gibt seinen besten Freund eines Tages wiederzusehen. Auch wenn dies bis heute ein eher unrealistischer Wunsch ist.
„Harry ich", begann ich zögernd, doch unterbrach mich schnell.
„Ich kann dir nichts genaues sagen. Meine Schwestern Levanna und Naomi wären dafür besser geeignet. Sie haben weit aus mehr Erfahrung."
Betrübt aber immer noch hoffnungsvoll, blickten mich beide Jungs an, während Hermine zwischen uns hin und her sah.
„Ich will nur wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, dass sie es waren. Ob es die Seelen meiner Eltern waren, die mich damals beschützt haben und nicht meine Einbildung war", flehte mich Harry beinahe schon an und rutschte auf seinem Stuhl ein Stückchen nach vorn. Unbehaglich nestelte ich am Saum meines Oberteils herum und versuchte, seinem Blick weitestgehend auszuweichen.
„Wenn ein Lebewesen stirbt, Harry, ist es der natürliche Lauf der Dinge, dass die Seele ihren Weg zur Totenwelt antritt. Zu welcher, ist wie schon gesagt abhängig von dem Leben vor dem Tod", meinte ich ungenau und sah zu meiner besten Freundin herüber, die nun einen nachdenklichen Blick aufgesetzt hatte.
„Entschuldigt, wenn ich euch unterbrechen muss, aber warum gibt es dann Geister bei uns auf der Erde? Ich meine, ihre Seele muss ja anscheinend noch nicht verschwunden sein, nenne ich es mal", warf Hermine ihre Gedanken in die Runde.
„Manchmal kann es dazu kommen, dass die Seelen der Verstorbenen ihren Tod nicht wahrnehmen und sich deswegen ihrem Schicksal widersetzen. Oder aber sie haben so große Angst vor ihrem Ableben, dass sie diesen Weg von sich weisen. Dann gibt es aber kein Zurück mehr. Es ist wie ein Schicksalsfaden, der durchtrennt wird. Er kann nicht mehr hergestellt werden."
„Und warum sind meine Eltern, Sirius und Cedric keine Geister geworden?", warf nun Harry ein wenig aufmüpfig ein und verschränkte seine Arme vor dem Oberkörper. Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und versuchte, meine Worte mit Bedacht zu wählen.
„Deine Eltern sind damals für einander gestorben beziehungsweise deine Mutter für dich. Wenn man sich opfert für jemanden, den man liebt dann ... dann akzeptiert man das kommende Schicksal des Todes", meinte ich mit belegter Stimme, als mir die Bilder von Alexanders Tod vor dem inneren Auge erschienen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Leon mich aufmerksam musterte und anschließend betrübt den Kopf senkte.
„Deine Mutter hat mit ihrem Opfer eine uralte Magie ausgeübt, die dich in den letzten Jahren beschützte. Meine Schwestern erzählten mir Geschichten über solche Geschehnisse, aber auch, dass sie immer weiter in Vergessenheit gerieten. Viele Menschen haben vergessen, was es heißt zu geben und zu nehmen. Das ein großer Gewinn auch ein großer Verlust sein kann. Und für deine Eltern war es ein größerer Gewinn, dass du lebst und sie dafür sterben, als anders herum. Sich aufopfern bedeutet sein Schicksal zu akzeptieren. Mit deinem Patenonkel war es nicht anders, auch wenn er aus dem Hinterhalt angegriffen wurde. Während er starb, galt der Gedanke nur deiner Sicherheit. Und auch wenn Cedric nicht für dich starb, dann für den Kampf und den Glauben an das Gute. All diese Faktoren verhindern, dass jemand nach seinem Ableben zum Geist wird."
Nervös wartete ich auf eine Antwort seitens Harry. Gerade, weil es für ihn ein sensibles Thema war, aber er musste die Dinge so hinnehmen, wie sie nun einmal waren. Ein leises Knarren ertönte aus der Richtung des dunkelhaarigen Jungen, der sich wieder ein Stück nach vorn gebeugt hatte.
„Besteht aber die Möglichkeit, dass ein Teil ihrer Seelen mich 'heimgesucht' hat? Und woher weißt du, wofür Sirius und Cedric gestorben sind?"
„Ich sage es einmal so: bisher habe ich keinen Beweis, dass es unmöglich ist. Und zu deiner zweiten Frage: meine Schwestern. Sie kannten Albus und hatten sich oft mit ihm unterhalten, wenn er mich unterrichtete. Es waren auch Levanna und Naomi, die die beiden in die Totenwelt geführt haben. Wir müssen eine Art Verbindung zu den Verstorbenen aufbauen und anhand seiner Erinnerungen eine Entscheidung treffen."
„Es klingt irgendwie so, als ob du dies schon einmal machen musstest", meinte Hermine mit leiser Stimme und zog eines ihrer Beine auf den Stuhl, um es anschließend mit beiden Armen zu umschließen. Verwirrt blickte Harry von ihr zu mir und blickte mich am Ende auffordernd an.
„Ich habe es bisher nur einmal getan, jemanden in eine Totenwelt zu führen. Aber es ist nicht wie du denkst mein Bruder gewesen, Hermine", erwiderte ich ihr und lehnte mich auf meinem Stuhl nach vorn.
Etwas überrascht blickte mich das braunhaarige Mädchen an, ehe sich ihre Augen weiteten und ihr Mund sich zu einem stummen ‚Oh' formte.
„Wäre jemand so freundlich und würde mich einweihen?", meinte Harry ein wenig verärgert, da er der Einzige war, der nicht Bescheid wusste.
„In der Nacht als Dumbledore starb, war Thalia diejenige, die über sein Schicksal entschieden hatte", mischte sich seit langer Zeit Leon wieder ein und richtete sich am Herd auf. Mit großen Augen starrte Harry mich an, wobei sich sein Mund immer wieder einmal öffnete und wieder schloss.
„Bevor du mich fragen willst. Ich habe mich für den Himmel entschieden, beziehungsweise haben seine Taten dafür gesprochen. Auch Cedric und Sirius sind dort, auch deine Eltern. Anders als viele Menschen denken, gibt es im Leben nicht die ‚Gebote', an die man sich halten muss. Entscheidend ist das Motiv und wie im Verhältnis die guten zu den bösen Taten stehen."
Bevor ich begreifen konnte, was geschah, stand Harry blitzschnell von seinem Platz auf, kam auf mich zu und zog mich in eine stürmische Umarmung. Verwirrt erwiderte ich diese Geste
„Danke."
Dieses einzelne Wort genügte mir, um zu verstehen und erleichtert durchzuatmen. Als sich der dunkelhaarige Junge wieder von mir löste, schenkte er mir ein erfreutes, aber auch zugleich betrübtes Lächeln. Und ich verstand auch warum. Zwar freute er sich für Cedric und seine Familie, als auch für Albus, doch wünschte er sich nichts sehnlicher, als das dies erst nie geschehen wäre. Dabei verstand ich ihn nur allzu gut. Nur mit Mühe konnte ich eine Träne unterdrücken, die sich in meinem Augenwinkel gebildet hatte. Und anhand von Harrys Blick bemerkte ich, dass er meine Reaktion wahrgenommen hatte.
Der restliche Tag verging wie im Flug und ehe ich mich versah, war die Nacht über uns hinein gebrochen. Hermine hatte den Tag in ihren Büchern gelesen, während Harry angefangen hatte, mit dem goldenen Schnatz herumzuspielen. Eine Weile hatte er dies nicht mehr getan, zuletzt an dem Tag der Testamentsverkündung. Leon und ich hingegen hatten weiter an unseren Fähigkeiten gepfeilt. Während mein bester Freund mehrere Flammen gleichzeitig erschuf und versuchte sie, auf einer Größe zu halten, beschwor ich ein paar Male das Seelenbuch. Jedoch abseits der anderen, ich wollte nicht, dass sie meine Unsicherheit dabei mitbekamen. Doch nach etwa zwei Stunden hatte ich keine geistige Kraft mehr für diese Art von Training und widmete mich dem Studieren meiner Schulbücher und Aufzeichnungen. Doch als der Abend hereinbrach und wir gegessen hatten, legte sich über meinen Geist eine nachdenklich, bedrückte Stimmung. Etwas, was mir nur allzu gut bekannt war.
„Du grübelst schon wieder, Lia", riss mich eine Stimme aus den Gedanken. Leicht erschrocken wandte ich meinen Kopf zur Seite und bemerkte Leon neben mir am Zelteingang. Ebenso wie ich kurz zuvor, blickte auch er vom Inneren des Zeltes aus in den klaren Sternenhimmel.
„Und du weißt auch, warum", entgegnete ich leise. Anhand seiner verkrampften Haltung wusste ich, dass ich richtig lag.
„Ist es wirklich wieder bald soweit?", fragte mich mein bester Freund unruhig, obwohl er die Antwort bereits kannte.
„Die Sterne lügen nicht. Noch dreizehn Tage, dann ...", antwortete ich ihm, konnte den Satz jedoch nicht beenden. Unaufhaltsam rollte mir eine Träne die Wange entlang.
„Ich weiß und auch wenn wir keine Gedenklichter mehr haben, werden wir ihm gedenken. Alexander wird seine Gedenkfeier bekommen, Lia. Das verspreche ich dir."
Dankbar legte ich meinen Kopf auf seine Schulter ab, antwortete ihm jedoch nicht dabei. Doch brauchte ich das nicht, denn wir beide wussten, dass keine weiteren Worte dafür nötig waren.


Heyho ihr Lieben,
tut mir leid, dass das Kapitel erst heute erscheint. Ich bin momentan wieder arbeiten und muss mich zudem um einen Schüler aus dem ersten Lehrjahr 'kümmern'. Das ist so eine Art Einführung in die Praxis, dass die aus dem dritten Lehrjahr den Neulingen in der ersten Woche alles zeigen und erklären, so wie sie einzuarbeiten. Und da war ich die Tag ein wenig geschafft, da ich so gesehen für zwei gearbeitet habe.

Doch zum Glück habe ich es heute noch geschafft.
Ich wünsche euch noch eine schöne Woche. Macht einfach das Beste daraus.

Eure Julia

Engel der Finsternis (II.Teil)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt